Der Untertan. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
– wenn auch natürlich aus abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, daß auch andere Macht haben.«
Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. »Glauben Sie bitte nicht«, sagte er lebhafter, »daß Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zärtlichkeit: eine Art feindlicher Zärtlichkeit, wenn Sie wollen.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Diederich.
»Nun ja: wie man sie für jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfindet, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. Er jedenfalls möchte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoß gefallen ist, wäre es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu überschätzen. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet.«
»Rolle?« fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht.
»Denn die kann ihn weit führen, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt paradox wirken muß. Diese Welt erwartet von keinem einzelnen irgend mehr als von seinem Nachbarn. Auf Niveau kommt es an, nicht auf Auszeichnung, und am allerwenigsten auf große Männer.«
»Erlauben Sie!« Diederich warf sich in die Brust. »Und das Deutsche Reich, hätten wir das ohne große Männer? Hohenzollern sind immer große Männer.« – Buck verzog schon wieder den Mund, wehmütig und skeptisch. »Dann müssen sie sich in acht nehmen. Und wir andern auch. Der Kaiser steht, auf seine Verhältnisse übertragen, vor derselben Frage wie ich. Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr geführt werden wird? Oder ein womöglich genialer Volksführer, während das Volk doch schon so weit ist, daß es auf die Genies verzichten kann? Beides wäre Romantik, und Romantik führt bekanntlich zum Bankerott.« Buck trank zwei Kognaks nacheinander.
»Was soll ich also werden?«
›Ein Alkoholiker‹, dachte Diederich. Er fragte sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Buck einen Krach zu machen. Aber Buck trug Uniform! Auch würde der Lärm vielleicht Agnes hervorgescheucht haben, und was konnte dann alles entstehen. Immerhin beschloß er, sich Bucks Äußerungen genau zu merken. Dachte der Mensch mit solchen Gesinnungen Karriere zu machen? Diederich erinnerte sich, daß auf der Schule Bucks deutsche Aufsätze, die zu geistreich waren, ihm ein unerklärtes, aber tiefes Mißtrauen eingegeben hatten. ›Stimmt‹, dachte er, ›so ist er geblieben. Ein Schöngeist. Die ganze Familie ist so.‹ Die Frau des alten Buck war eine Jüdin gewesen, die Theater gespielt hatte. Und Diederich fühlte sich nachträglich gedemütigt durch das herablassende Wohlwollen des alten Buck, beim Begräbnis seines Vaters. Auch der junge demütigte ihn, fortwährend und mit allem: mit seinen überlegenen Redensarten, seinen Manieren, seinem Verkehr bei den Offizieren. War er ein Herr von Barnim? Er war auch nur aus Netzig. ›Ich hasse die ganze Familie!‹ Und Diederich betrachtete aus gekniffenen Lidern dies fleischige Gesicht mit der weich gebogenen Nase und den feucht glänzenden Augen, die sannen. Buck stand auf. »Nun, wir sehen uns zu Hause wieder. Nächstes oder übernächstes Semester mache ich mein Examen, und was bleibt dann weiter übrig, als Rechtsanwalt spielen in Netzig ... Und Sie?« fragte er. Diederich erklärte streng, daß er seine Zeit nicht zu verlieren und noch im Sommer seine Doktorarbeit abzuschließen denke. Damit führte er Buck hinaus. ›Ein dummer Kerl bist du doch nur‹, dachte er. ›Merkst gar nicht, daß ich ein Mädchen bei mir habe.‹ Er kehrte zurück, froh seiner Überlegenheit über Buck und auch über Agnes, die im Dunkeln gewartet und nicht gemuckt hatte.
Wie er aber die Tür öffnete, hing sie über einem Stuhl, ihre Brust ging heftig, und mit dem Taschentuch unterdrückte sie das Keuchen. Sie sah ihm entgegen, aus geröteten Augen. Er sah: sie war da drinnen fast erstickt, und sie hatte geweint – indes er hier draußen getrunken und unnützes Zeug geredet hatte. Seine erste Regung war maßlose Reue. Sie liebte ihn! Da saß sie und liebte ihn so sehr, daß sie alles ertrug! Er war im Begriff, die Arme zu erheben, vor sie hinzustürzen und sie weinend um Verzeihung zu bitten. Rechtzeitig hielt er sich zurück, aus Furcht vor der Szene und der sentimentalen Stimmung nachher, die ihn wieder mehrere Arbeitstage kostete und ihr die Oberhand gab. Er tat ihr nicht den Willen! Denn natürlich übertrieb sie absichtlich. So küßte er sie flüchtig auf die Stirn und sagte: »Du bist schon da? Ich hab dich gar nicht kommen gesehen.« Sie zuckte auf, wie um etwas zu erwidern, aber sie schwieg. Darauf erklärte er, es sei gerade jemand fortgegangen. »So ein Judenbengel, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!« Diederich lief im Zimmer umher. Um Agnes nicht ansehen zu müssen, lief er immer schneller und redete immer heftiger. »Das sind unsere schlimmsten Feinde! Die mit ihrer sogenannten feinen Bildung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ein Judenbengel kann froh sein, daß wir ihn dulden. Soll er seine Pandekten büffeln und die Schnauze halten. Auf seine schöngeistigen Schmöker huste ich!« schrie er noch lauter, mit der Absicht, auch Agnes zu kränken. Da sie nicht antwortete, nahm er einen neuen Anlauf. »Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Immer muß ich deinetwegen auf der Bude hocken!«
Agnes sagte schüchtern: »Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fürchte, du hast mich nicht mehr lieb.« Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: »Mein liebes Kind, daß ich dich liebhabe, brauch ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Lust habe, jeden Sonntag deinen Tanten beim Häkeln zuzusehen und mit deinem Vater über Politik zu reden, wovon er nichts versteht.« Agnes senkte den Kopf. »Früher war es so schön. Du standest dich schon so gut mit Papa.« Diederich drehte ihr den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fürchtete zu gut zu stehen mit Herrn Göppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Sötbier, wußte er, daß Göppels Geschäft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Sötbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwiegersohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fühlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht, mit dem Alten zusammenzustecken. Entrüstet wandte er sich ihr wieder zu. »Und, dann, liebes Kind, ehrlich gestanden: was wir beide tun, nicht wahr, das ist unsere Sache, aber deinen Vater lassen wir lieber aus dem Spiel. Beziehungen wie die unseren soll man mit Familienfreundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefühl verlangt da reinliche Scheidung.«
Ein Augenblick verging, dann stand Agnes auf, als habe sie jetzt begriffen. Sie war tief errötet. Sie ging zur Tür. Diederich holte sie ein. »Aber Agnes, so hab ich es doch nicht gemeint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr achte – Und ich kann ja auch wiederkommen Sonntag.« Sie ließ ihn reden, mit unbewegter Miene. »Nun sei doch wieder gemütlich«, bat er. »Du hast noch nicht mal deinen Hut abgenommen.« Sie tat es. Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. Sie küßte ihn auch, wie er es wollte. Aber indes ihre Lippen lächelten und küßten, blieben ihre Augen starr und unbeteiligt. Plötzlich riß sie ihn in ihre Arme: er erschrak, er wußte nicht, ob es Haß war. Aber dann fühlte er sich heißer geliebt als je.
»Heute war es aber wirklich schön. Was, meine kleine süße Agnes?« sagte Diederich, zufrieden und gutmütig.
»Adieu«, sagte sie, hastend nach Schirm und Beutel, während er sich erst ankleidete.
»Du hast es aber eilig.« – »Weiter kann ich wohl nichts für dich tun.« Sie war schon bei der Tür – plötzlich fiel sie mit der Schulter gegen den Pfosten und rührte sich nicht mehr. »Was ist denn los?« Wie Diederich näher kam, sah er sie schluchzen. Er berührte sie. »Ja, was hast du denn?« Da ward ihr Weinen laut und krampfhaft. Es hörte nicht auf. »Aber Agnes«, sagte Diederich von Zeit zu Zeit, »was ist auf einmal geschehen, wir waren doch so vergnügt.« Und ganz ratlos: »Hab ich dir was getan?« Zwischen den Krisen und halb erstickt, brachte sie hervor: »Ich kann nicht. Entschuldige.« Er trug sie auf den Diwan. Als es endlich vorbei war, schämte Agnes sich. »Verzeih! Ich kann nicht dafür.« – »Kann denn ich dafür?« – »Nein, nein. Es sind die Nerven. Verzeih!«
Mitleidig und geduldig brachte er sie bis zu einem Wagen. Nachträglich aber erschien