Walther Rathenau - Leben und Werk - Band 126 in der gelben Reihe bei Jürgen Ruiszkowski. Harry KesslerЧитать онлайн книгу.
Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der tönerne Krug verraten, dass die Notdurft sie erfand: Es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. Während der von Begriffen und Abstraktionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, außer der Abwehr des Übels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.“ (Nietzsches Werke, Bd. X, S. 206f.)
Aber die Abkehr vom Intellekt, die Bevorzugung der Intuition als einer tiefer eindringenden und schöpferischen Form der Erkenntnis lag überhaupt um 1900 sozusagen in der Luft. Die Beredsamkeit des französischen Philosophen Bergson umgab gerade damals die Wertschätzung der Intuition mit einem so verführerischen, sozusagen nach dem Scheiterhaufen riechenden Zauber, dass seine Werke eine Zeitlang, in jener von Proust beschriebenen Zeit, neben die seltensten und neuesten Kostbarkeiten, altpersische Fayencen, Maillol-Figürchen, Han-Terrakotten, auf die vorgeschrittensten Boudoirtische von Paris gehörten. Auch ist die Erkenntnis, dass das zweckfreie intuitive Schauen tiefer eindringt als der am Zweck gebundene analytische Verstand selbstverständlich uralt. Der erste Spruch des ältesten Philosophen, Laotse, lautet:
„Klar sieht, wer von ferne sieht,
und nebelhaft, wer Anteil nimmt.“
und sein zweiter:
„Der Vollendete lebt ohne Zweck,
lenkt ohne Wort,
handelt ohne Antrieb,
schafft ohne Gegenstand,
erdenkt ohne Ziel,
wirkt ohne wirkend zu sein.“
Doch für Walther Rathenau wurde die Überlegenheit der Intuition eine ganz persönliche Erfahrung durch das Schaffen seines Vaters, an dessen Beispiel ihm der Unterschied verwaltender von schöpferischer Tätigkeit und die Rolle der Intuition bei dieser täglich, fast stündlich verdeutlicht wurde. Daher erschienen ihm nicht nur theoretisch, sondern auf Grund lebendigsten Erlebens neue Wertmaßstäbe, die er 1907 in seinen „Ungeschriebenen Schriften“ katalogmäßig aufzählt (Ges. Schr., Bd. 4, S. 218f.):
„Blick fürs Wesentliche,
Bewunderung,
Vertrauen,
Wohlwollen,
Phantasie,
Selbstbewusstsein,
Einfachheit,
Sinnenfreude,
Transzendenz“
und in Gegensatz setzt zu den „Neigungen von Sklavenseelen“, die diejenigen sind, welche er an sich selbst bekämpft:
„Freude an der Neuigkeit,
Kritiklust,
Dialektik, Skeptizismus,
Schadenfreude,
Sucht zu glänzen,
Geschwätzigkeit,
Verfeinerung,
Ästhetizismus.“
So hat er die Abkehr vom Geist vor sich gerechtfertigt und theoretisch reinen Tisch gemacht für seine späteren Konstruktionen.
Aber man würde seine Persönlichkeit missverstehen, wenn man damit den Kampf in seinem Innern als ausgefochten ansähe. Der Geist mit seinem Glanz und Elend, mit seiner Sklavenseele, bleibt, wie in unserer Zivilisation, so auch in ihm der mächtigste von allen Antrieben, gegen den die Eigenschaften, die, wie er sich ausdrückt, den „Adel der Seele ausmachen“, bestenfalls ständig rebellieren können.
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Freundschaften
Freundschaften
Rathenau war von Natur leidenschaftlich und, wie aus seiner künstlerischen Veranlagung und Sehnsucht nach Schönheit zu folgern ist, sinnlich. Aber in der ungeheuren Vielstimmigkeit seines Wesens war die Sinnlichkeit mit allen von ihr abgeleiteten Regungen nie mehr als eine von den vielen Stimmen, die gleichzeitig in ihm tönten. Vor allem nie so stark, dass sie seine mächtigsten Triebe, sein Selbstgefühl, seinen Hang zur Verschlossenheit, seinen Widerwillen gegen jede Form der Abhängigkeit, seinen wie eine Naturkraft in ihm wirkenden Verstand, zum Schweigen bringen konnte. Man findet daher in seinen Schriften und Briefen viel Sehnsucht nach Hingegebenheit, nach Freundschaft, nach Versunkenheit in der Liebe, viel zarte Einfühlung in die Regungen liebender oder verehrender Herzen, wie schon in seiner frühen Dichtung „Blanche Trocard“, aber kein Zeugnis für irgendeinen Augenblick, wo alle vielen Stimmen seines Wesens vor dem einen reinen Ton der Liebe geschwiegen hätten. Wenn das Liebesmotiv als süßes Flötensolo anheben soll, geigt irgendwo der Paganini des Verstandes wie toll weiter; und man ahnt, wie verzweifelt, wie erfolglos der Kapellmeister abklopft, um Ruhe für sein Flötensolo herzustellen. In den Briefen, deren Worte der Leidenschaft am nächsten kommen, verrät immer zum mindesten die Schrift, die stets geschäftsmäßige, gleiche, etwas floskelhafte, nie und nirgends erregte Schrift, eine Zurückhaltung, die nicht einen Augenblick den Schleier von der Seele ganz lüften will oder kann. Nie geht die Leidenschaft mit Rathenau durch. Nie besiegt die Gier der erotischen Inbesitznahme die Angst vor dem Gefangenwerden in fremdem Netz. Nie täuscht ihm die Sinnenlust die Möglichkeit des Ineinanderschmelzens zweier Seelen vor. „Ich kenne diese Sehnsucht“, schreibt er an Lore Karrenbrock, „und fühle sie Ihnen nach, und weiß doch, wie vergeblich sie ist. Vereinigung gibt es nur im Bereich der Sinne, und da ist sie flüchtige Täuschung. Die Seelen aber stürzen hintereinander her wie die bewegten Sterne und können doch ihre Bahn nicht verlassen und begegnen sich nicht.“ (Brief 645.)
Er konnte manchmal sehr unbedeutende Menschen seiner Freundschaft für wert halten; dann mussten sie allerdings blond sein, mit einem Siegfried-Typus, der seiner romantischen Bewunderung für die nordische Rasse einen Gegenstand bot. Ja, wenn sie beschränkt waren, dann verstärkte das in seinen Augen ihre Ähnlichkeit mit dem nordischen Ideal-Typus. In solchen Freundschaften zeigt sich bei ihm manchmal fast bis zur Karikatur, wie eigenartig aus Erotik und Theorie sein Gefühlsleben gemischt war. Und auch dem Dämonischen gegenüber versagte deshalb seine Einfühlung, ja sogar manchmal seine Vorsicht. Der Vergleich mit Lassalle drängt sich auf. Auch bei diesem die Hemmung, die allzu laute Begleitmusik des Verstandes: „Ich bin, wie Ihnen vielleicht nicht entgangen sein wird,“ schreibt Lassalle an Lina Duncker, „nicht ein Mensch wie andere. Ich bin, um mich so auszudrücken, ein durch und durch theoretisches Wesen. Ich lebe mit dem Geiste, ich kann nur gleichgestimmte Wesen lieben. Beeinträchtigen, zerstören Sie meine theoretische Schätzung Ihres Geistes und besonders Ihres Charakters, und meine Liebe ist verflogen, unaufhaltsam und unwiederbringlich.“ Aber Lassalle ist primitiver, roher als Walther Rathenau; in einem gewissen Augenblick bezwang seine Sinnlichkeit doch seinen Verstand: da entführte er Helene von Dönniges. Rathenau kommt über das Hindernis nie fort; er bringt es nur bis zur Sehnsucht. „Ich kenne diese Sehnsucht“: die Sehnsucht nach dem Gefühl der vollen Hingabe, die seine Kompliziertheit ihm nie gestattete. Er begreift, sozusagen als Dichter, die volle Hingabe, fühlt sich in sie ein, besitzt für sie auch den Ausdruck in Worten, kann sie aber hinter den Worten nicht rein aufbauen. Diese Hemmung macht seine Erotik in den Augen anderer geheimnisvoll und problematisch, enttäuscht die, die nach seinen Worten volle Hingabe erwartet hatten, und gibt ihm selbst das Gefühl der Vereinsamung, weil die Brücke, die er zwischen sich und andere durch Hingabe bauen möchte, nie ganz das andere Ufer erreicht.
Eine opferbereite, in die feinsten fremden Regungen sich einfühlende und sie zart streichelnde Freundschaft scheint daher auch Frauen gegenüber das stärkste Gefühl gewesen zu sein, das seine Natur ihm gestattete; ein Gefühl, das er fast in gleicher Wärme Männern wie Frauen entgegenbringen konnte. In den veröffentlichten Briefen an Wilm Schwaner, Ernst Norlind, Constantin Brunner kommen Stellen vor, deren Gefühlston nicht weniger stark ist als der von Briefen, die fast Liebesbriefe sind, an Frauen. Alles was zu einer solchen Freundschaft führen