Professor Unrat. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
was gemeint war, schrien
mit. Durch den Sturm hindurch, der sich gegen ihn erhoben hatte, mußte
Unrat die steile Straße erklimmen. Keuchend erreichte er einen
Kirchplatz.
Das war ihm wohl alles geläufig; die ehemaligen Schüler, die ihn nicht
grüßten, sondern angrinsten, die Straßenjugend, die ihm seinen Namen
nachrief. Nur hatte er heute in seinem Eifer nicht damit gerechnet: denn
jetzt schuldeten die Leute ihm eine Antwort. Wenn sie früher ihre
Vergilverse nie gekonnt hatten, mußten sie nun wenigstens über die
Künstlerin Fröhlich Bescheid wissen!
Unrat kam auf den Markt und an einem Tabakshändler vorbei, einem Schüler
von vor zwanzig Jahren, von dem er zuweilen ein Kistchen bezogen hatte;
-- nur zuweilen: er rauchte nicht stark, er trank selten; er hatte
keines der bürgerlichen Laster ... Die Rechnungen dieses Mannes waren
regelmäßig überschrieben: Herrn Professor U --, und dann erst war aus
dem U ein R gemacht. Ob das böse Absicht oder Gedankenlosigkeit war,
hatte Unrat nie feststellen können; aber er verlor auf einmal den Mut,
den Laden zu betreten, dessen Schwelle er schon berührt hatte. Der Mann
da drinnen war ein widersetzlicher Schüler, der nicht zu »fassen« war.
Er schlich eilig weiter. Es regnete nicht mehr; der Wind trieb die
Wolken fort. Die Gaslaternen flackerten rot. Schief über einen Giebel
lugte manchmal der gelbe, halbe Mond: ein höhnisches Auge, das gleich
wieder das Lid einkniff, so daß ihm sein Hohn nicht zu »beweisen« war.
Wie er in den »Kohlbuden« trat, flammten die großen Fenster des Café
Central lichterloh auf. Unrat spürte Lust, hineinzugehen, ein
ungewohntes Getränk zu sich zu nehmen. Er war heute auf merkwürdige
Weise aus den Schienen seines Tages herausgeworfen. Da drinnen ließ sich
gewiß etwas über die Künstlerin Fröhlich erfahren; dort ward von allem
möglichen gesprochen. Unrat wußte dies von früher, denn zu Lebzeiten
seiner Frau hatte er sich manchmal -- sehr selten -- eine Ferienstunde
im Café Central gegönnt. Seit sie tot war, hatte er zu Hause so viel
Ruhe wie er wollte, und brauchte das Café nicht mehr. Überdies war ihm
der Aufenthalt dort zum Schluß erschwert worden durch den neuen
Besitzer, auch einen frühern, nach Jahren in die Stadt zurückgekehrten
Schüler. Dieser hatte seinen einstigen Lehrer eigenhändig bedient und
ihn mit äußerster Höflichkeit, so daß Unrat es ihm unmöglich »beweisen«
konnte, fortwährend als Professor Unrat angeredet. Die Gäste waren sehr
angeregt gewesen; Unrat hatte die Empfindung gehabt, wenn er häufiger
herkäme, würde er dem Lokal zur Reklame dienen.
Also wandte er sich fort und suchte im Geist nach andern Stätten, wo er
seine Frage vorbringen konnte. Aber es fielen ihm keine ein. Die
bekannten Köpfe, die sein Gedächtnis aufrief, trugen alle solche Mienen
wie vorhin der Handlungslehrling, sein Schüler. Die erleuchteten
Geschäfte bargen, wie das des Zigarrenhändlers und das des Cafétiers,
lauter aufrührerische Schüler. Unrat geriet in Zorn, er fing an müde zu
werden, und er hatte Durst. Er warf nach den Läden, nach den Haustüren
mit Namen ehemaliger Sekundaner aus den Rändern seiner Brillengläser die
grünen Blicke, die seine Klasse giftig nannte. Alle diese Burschen
forderten ihn heraus. Auch die Künstlerin Fröhlich, die sich in einem
dieser Häuser versteckt hielt, einen seiner Schüler mit Nebendingen
beschäftigte und sich Unrats Machtbefugnis entzog, sie forderte ihn
heraus! Zuweilen zeigte das Schild an einem Eingang den Oberlehrer
Soundso an; dann lenkte Unrat gereizt die Augen weg. Der da hatte vor
seiner eigenen Klasse seinen Namen genannt; und daß er sich darauf
verbessert hatte, machte nichts gut. Dieser hier hatte Unrats Sohn auf
dem Markt mit einem Frauenzimmer gesehen und das Gesehene herumgeredet.
Auf allen Seiten bedroht von Feinden, durchmaß Unrat die Straßen. Er
schlich an den Häusern hin, mit einem gespannten Gefühl oben auf dem
Scheitel; denn jeden Augenblick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser,
den jemand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name
fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu
»fassen«! Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um Unrat
her.
So rettete er sich, ehe er's selber wußte, in die abgelegenste, tiefste
Gegend, wo am Ende einer langen, stillen Gasse das Stift der alten
Fräulein stand. Es war hier ganz dunkel. Ein paar huschende Wesen in
halblangen »Mantillen« und mit Tüchern um den Kopf kehrten verspätet
heim aus einem Kränzchen, von einem Abendgottesdienst, klingelten
verstohlen, zergingen in einer Türspalte. Eine Fledermaus beschrieb
Zacken über Unrats Hut. Unrat dachte und schielte nach der Stadt hinauf:
»Dann ist da kein, kein Mensch.«
Er sagte wohl:
»Ich leg' euch Bande noch mal hinein!«
Aber da er seine Ohnmacht fühlte, kam der Haß in ihm ins Zittern und riß
ordentlich an ihm; der Haß auf diese Tausende fauler, boshafter Schüler,
die ihm immer die schuldige Arbeit vorenthalten, ihn immer bei seinem
Namen genannt, immer nur auf Unfug gesonnen hatten; die ihn jetzt mit
der Künstlerin Fröhlich ärgerten, sie und den Schüler Lohmann nicht
angaben, sondern sich benahmen wie eine »gemeine« Klasse, die
zusammenhält gegen den Lehrer; die jetzt alle beim Abendessen saßen, ihn
aber nötigten, hier unten herumzuschleichen; und die überhaupt, es ahnte
ihm in dieser Stunde, etwas Übles aus ihm gemacht, ihn in den langen
Jahren, die er bei ihnen war, fragwürdig zugerichtet hatten.
Er, der seit sechsundzwanzig Jahren die Klasse vor sich hatte, die
Klasse mit immer denselben tückischen Gesichtern, hatte nie bemerkt, daß
die Gesichter hier draußen und wenn die Zeit hinging, bald ganz
gleichgültige