Fingerzeige - Intentions. Oscar WildeЧитать онлайн книгу.
Wen meinst du mit den ›Auserwählten‹?
Vivian. Die ›Tired Hedonists‹ natürlich. Sie bilden einen Klub, dem ich auch angehöre. Wir tragen welke Rosen im Knopfloch und treiben eine Art Kult mit dem Kaiser Domitian. Dich würde man, fürchte ich, nicht wählen. Du bist zu harmlos.
Cyril. Ich würde wohl wegen allzu großer Lebenskraft ausgeschlossen.
Vivian. Wahrscheinlich. Ausserdem bist du ein wenig zu alt. Leute gewöhnlichen Alters nehmen wir nicht.
Cyril. Nun; ich glaube, ihr langweilt einander aus dem Grunde!
Vivian. Das tun wir; das ist einer der Zwecke des Klubs. Doch wenn du versprichst, mich nicht so oft zu unterbrechen, will ich dir meinen Artikel vorlesen.
Cyril. Ich werde ganz Ohr sein.
Vivian. (mit sehr deutlicher und klangvoller Stimme vorlesend). »›Der Verfall der Lüge. Ein Protest.‹ Eine der Hauptursachen, die zur Deutung des sonderbar trivialen Charakters des größten Teils unseres heutigen Schrifttums angeführt werden können, besteht zweifellos im Verfall der Lüge, als einer Kunst, einer Wissenschaft und einer geselligen Unterhaltung. Die Geschichtsschreiber der Alten stellten, was sie so wundervoll erdichtet, als geschichtliches Ereignis dar; der moderne Romanschreiber bietet uns langweilige Tatsachen als Dichtung verkleidet. Der Blaubuch-Stil wird ihm immer mehr zum Vorbild für Haltung und Gang seines Werkes. Er sammelt seine ewigen »documents humains«, er sucht sich seinen kleinen »coin de la création«, und legt ihn unter sein Mikroskop. Er schämt sich nicht, sein Material in der Librairie Nationale oder im Britischen Museum zusammenzulesen. Er hat nicht einmal den Mut zu fremden Meinungen, sondern meint, er müsse aufs Leben selbst zurückgehen. So kommt er schließlich zwischen Lexicis und persönlicher Erfahrung nieder; seine Gestalten sind die des Familienkreises oder der wöchentlichen Waschfrau, und niemals kann er, nicht einmal in den nachdenklichsten Momenten, seine Last nützlichen Wissens abschütteln. Der Schaden, der dem gesamten Schrifttum aus diesem falschen Ideal unserer heutigen Zeit erwächst, kann kaum überschätzt werden. Man hat sich in seinem Leichtsinn angewöhnt, von einem ›geborenen Lügner‹ wie von einem ›geborenen Dichter‹ zu sprechen. Beide Male mit Unrecht. Das Lügen sowohl wie das Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato erkannte, miteinander verwandt sind, und sie erfordern die größte Gewissenhaftigkeit und uneigennützigste Liebe. Und in der Tat haben sie auch, gleich den materielleren Künsten der Malerei und Skulptur, ihre eigene Technik, ihre eigenen Geheimnisse der Farbe und Form, ihre eigenen Handgriffe, eigene wohlüberlegte, künstlerische Methoden. Wie man den Dichter an seiner feinen Melodie erkennt, so auch den Lügner am rhythmischen Reichtum seiner Sprache, und bei keinem von beiden vermag die zufällige Eingebung des Augenblicks zu genügen. Wie überall, so muß auch hier der Vollendung die Übung vorangehn. Wenn aber heute das ›Dichten‹ viel zu allgemein geworden ist – man sollte es hindern, so viel wie möglich – so ist die Lüge fast in üblen Ruf geraten. Mancher junge Mensch tritt ins Leben mit der natürlichen Anlage, zu übertreiben, einer Anlage, die man mit Sorgfalt pflegen und an der Hand der höchsten Vorbilder züchten sollte, daß etwas Großes und Wunderbares aus ihr werde. In der Regel aber bringt ein solcher Mensch es zu nichts. Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit – –«
Cyril. Aber mein Lieber!
Vivian. Bitte, unterbrich mich nicht mitten im Satz. »Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit, oder er sucht die Gesellschaft von Bejahrten und Wohlunterrichteten. Beides ist seiner Phantasie – und in der Tat der Phantasie eines jeden – verhängnisvoll, und es dauert nicht lange, so beginnt er eine krankhafte Vorliebe für die Wahrheit zu zeigen; er prüft alles, was in seiner Gegenwart behauptet wird, widerspricht rückhaltlos dem, der viel jünger ist, und oft schreibt er schließlich Romane, die dem nackten Leben so ähnlich sehen, daß keiner imstande ist, an ihre Möglichkeit zu glauben. Wir führen hiermit keinen vereinzelten Fall an. Es ist nur einer unter vielen; und wenn nichts geschieht, die heutige Vergötterung der Tatsachen auszurotten, zum mindesten einzudämmen, dann wird die Kunst welken und die Schönheit von hinnen ziehen.
Selbst Stevenson, jener reizvolle Meister zarter und phantastischer Prosa, zeigt die Flecken dieses modernen Lasters – denn wir wissen es wahrlich nicht anders zu nennen. So seltsam es auch klingen mag, aber man kann eine Geschichte unwahrscheinlich machen, wenn man versucht, sie zu wahr zu machen; so ist denn der ›Black Arrow‹ so unkünstlerisch, daß er sich nicht eines einzigen Anachronismus rühmen kann, während die Verwandlung Dr. Jekylls sich gefährlich nach einem Experiment aus dem Lancet anhört. Rider Haggard, der wirklich Anlage hat, oder doch hatte, ein grandioser Lügner zu werden, fürchtet jetzt so sehr, man könne meinen, er sei ein Genie, daß er es für nötig hält, eine persönliche Reminiszenz zu erfinden, um sie in einer Anmerkung als feige Bestätigung des Erzählten anzubringen. Aber die anderen sind auch nicht viel besser. Mr. Henry James schreibt Romane, als sei es eine peinliche Pflicht, und verschwendet seinen hübschen, gelehrten Stil, seine treffenden Wendungen, seine behende und beißende Satire an niedrige Motive und unerfindliche ›Gesichtspunkte‹. Mr. Hall Caine strebt zweifellos nach Grandiosität, nur überschreit er sich. Er ist so geräuschvoll, daß man nicht hört, was er sagt. Mr. James Payn ist ein Virtuose in der Kunst, alles zu verhüllen, was nicht einmal verdient, gefunden zu werden. Er spürt mit dem Eifer eines kurzsichtigen Geheimpolizisten Dinge auf, die niemand nicht sieht. Je länger man liest, um so unerträglicher wird die Spannung des Verfassers.
Den Sonnenrossen William Blacks fehlt die Kraft, zur Sonne emporzusteigen. Sie versetzen den Abendhimmel nur in farbenwilden Schrecken. Sobald sie nahen, retten die Bauern sich in den Dialekt. Mrs. Oliphant weiß in gefälliger Weise von Geistlichen, Tennisgesellschaften, häuslichen Angelegenheiten und anderen langweiligen Dingen zu plaudern. Marion Crawford hat sich auf dem Altar der Lokalfarbe geopfert. Er gleicht der Dame des französischen Lustspiels, die immer nur von dem ›beau ciel d'Italie‹ spricht. Außerdem hat er die schlimme Angewohnheit, sich in moralischen Platitüden zu ergehen. Er versichert uns immer, das Gute sei gut und das Böse schlecht. Zuweilen ist er beinahe erbaulich. Robert Elsmere ist natürlich ein Meisterwerk, ein Meisterwerk des ›genre ennuyeux‹, der einzigen Form des Schrifttums, die die Engländer wirklich zu genießen scheinen. Ein denkender junger Freund von uns bemerkte einmal, ihn erinnere das Buch an eine Art ernster Unterhaltung, wie sie in dem Hause einer nonkonformistischen Familie beim Nachmittags-Tee geführt werde, und wir können uns denken, daß er sehr recht hat. In der Tat, solche Bücher sind nur in England möglich. England ist die Stätte der Geistlosigkeit. Von der übrigen großen und täglich noch wachsenden Zahl der Romanschreiber, denen die Sonne nur im ›East-End‹ aufgeht, läßt sich nur eins sagen: sie verwandeln die Ungeschliffenheit des Lebens in brutale Rohheit.
In Frankreich steht es auch nicht viel besser, obgleich dort nichts so ausgesprochen Langweiliges entstanden ist, wie Robert Elsmere. Guy de Maupassant weiß mit seiner beißenden, bitteren Ironie und seinem harten, farbenreichen Stil das Leben seiner letzten, armseligen Lumpen zu berauben, um uns zehrendes Geschwür und brandige Wunden zu zeigen. Er schreibt kleine, gespenstische Tragödien, in denen jedermann lächerlich ist, oder bittere Komödien, über die man vor Tränen nicht lachen kann. Zola, seiner hochtrabenden Lehre getreu: L'homme de génie n'a jamais d'esprit, ist entschlossen, uns zu überzeugen, daß er, ohne Genie zu besitzen, wenigstens langweilen kann. Und wie gut ihm das gelingt! Doch ist er nicht ohne Kraft der Schilderung. Ja, zuweilen, wie im Germinal, zeigt er fast epische Größe. In allem aber ist er auf grundfalscher Fährte, nicht als Moralist, aber als Künstler. Vom Standpunkte der Moral ist er unantastbar. Er redet stets die Wahrheit und seine Beschreibungen stimmen vollständig mit dem Leben überein. Was kann man mehr verlangen? Wir haben durchaus kein Verständnis für die moralische Entrüstung, die sich heutzutage gegen Zola geltend macht. Sie ist die moralische Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Was hingegen läßt sich vom Standpunkt der Kunst zu seinen Gunsten sagen, zugunsten des Verfassers von L'Assommoir, Nana und Pot-Bouille? Nichts. Ruskin vergleicht einmal die Charaktere der Eliotschen Romane mit dem Abschaum eines Pentonviller Omnibus; aber Zolas Charaktere sind weit schlimmer. Sie langweilen uns mit ihren Lastern