Fingerzeige - Intentions. Oscar WildeЧитать онлайн книгу.
Ich bin nicht der Ansicht. Denn was bieten uns im Grunde die nachahmenden Künste? Doch nur eine Auswahl verschiedener Stilarten, die von bestimmten Künstlern erfunden und in gewissen Kunstschulen ausgebildet wurden. Du glaubst doch nicht etwa, daß die Menschen des Mittelalters auch nur im entferntesten jenen Figuren ähnlich waren, die uns in der mittelalterlichen Glasmalerei und Holzschnitzerei oder in der mittelalterlichen Skulptur und Metallarbeit, in der Teppichwirkerei oder in den bunt bemalten Handschriften begegnen? Es waren vermutlich ganz gewöhnliche Menschen, die durchaus nichts Groteskes oder Phantastisches oder irgend etwas Auffallendes an sich hatten. Das Mittelalter, wie wir es aus Kunstwerken kennen, ist nichts, als ein in sich abgeschlossener Stil, und es liegt kein Grund vor, weshalb nicht auch das neunzehnte Jahrhundert einen Künstler desselben Stils hervorbringen sollte. Kein großer Künstler sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Er würde aufhören, Künstler zu sein. Nehmen wir ein ganz modernes Beispiel. Ich weiß, du liebst japanische Kunstgegenstände. Solltest du ernstlich glauben, daß die Japaner, wie sie in der Kunst dargestellt werden, wirklich leben? Dann hättest du nämlich gar nichts von der japanischen Kunst begriffen. Die Japaner sind die eigenmächtige Schöpfung einzelner Künstler. Wenn du die Männer und Frauen eines Hokusai, oder Hokkei, oder irgendeines eingeborenen Malers mit wirklichen Japanern oder Japanerinnen vergleichst, so wirst du sehen, daß auch nicht die geringste Ähnlichkeit besteht. Die Menschen, die in Japan leben, gleichen dem Durchschnitt des Engländers, was so viel heißt, daß sie äußerst trivial sind und nichts Bemerkenswertes oder Außergewöhnliches an sich haben. Eigentlich ist das ganze Japan eine reine Erfindung. Es gibt kein solches Land, keine solchen Menschen. Einer unserer liebenswürdigsten Maler ging vor kurzem nach dem Land der Chrysanthemen, in der törichten Hoffnung, er werde die Japaner sehen. Alles, was er sah, und alles, was er malen konnte, waren Lampions und Fächer. Es war ihm unmöglich, die Einwohner zu entdecken, wie seine reizende Ausstellung in der Dowdeswell-Galerie nur zu deutlich zeigt. Er wußte nicht, daß die Japaner, wie ich eben sagte, einfach eine besondere Stilart, eine prachtvolle Phantasie der Kunst sind. Und deshalb, wenn du etwas Japanisches zu sehen wünschst, wirst du nicht wie ein törichter Reisender nach Tokio gehen. Im Gegenteil, du wirst zu Hause bleiben, dich in die Arbeit bestimmter japanischer Künstler vertiefen und, von der Eigenart ihres Stils und der schöpferischen Kraft ihrer Phantasie ganz durchdrungen, wirst du dich eines Nachmittags in den Park setzen oder durch Piccadilly schweifen, und wenn du dort nicht ein echt japanisches Stimmungsbild siehst, wirst du es nirgends sehen. Aber kehren wir wieder in die Vergangenheit zurück. Nehmen wir als ein zweites Beispiel die alten Griechen.
Meinst du, daß wir durch die griechische Kunst erfahren, wie die Griechen ausgesehen haben? Glaubst du, die Frauen Athens hatten Ähnlichkeit mit den stattlichen, hoheitsvollen Gestalten des Parthenonfrieses oder mit jenen wunderbaren Göttinnen, die in den Giebelfeldern dieses Tempels thronten? Wenn du nach den Kunstwerken urteilst, wirst du es annehmen müssen. Aber lies eine Autorität, wie zum Beispiel den Aristophanes. Du wirst dich überzeugen, daß die Damen Athens sich schnürten und Schuhe trugen mit hohen Absätzen, daß sie ihr Haar gelb färbten und sich schminkten, genau wie die törichten Damen der Mode- und Halbwelt von heute. Wir blicken durch den Schleier der Kunst auf die Zeitalter zurück, und die Kunst hat glücklicherweise noch immer gewußt, die Wahrheit zu verbergen.
Cyril. Aber die Porträtbilder der modernen englischen Maler, wie steht es mit ihnen? Die sehen doch sicherlich den Menschen ähnlich, die sie vorstellen.
Vivian. Ja eben. Sie sehen ihnen so ähnlich, daß nach hundert Jahren keiner mehr an ihre Echtheit glaubt. Die einzigen Porträts, an deren Echtheit man glaubt, sind solche, in denen das Model die Nebenrolle und die Persönlichkeit des Malers die Hauptrolle spielt. Holbeins Zeichnungen von Männern und Frauen wirken durch ihre unmittelbare Lebendigkeit. Das liegt aber daran, daß Holbein das Leben zwang, seine Bedingungen anzunehmen, die Grenzen, die er ihm setzte, zu wahren, den Typus, den er schuf, nachzubilden und nur in der Gestalt in die Erscheinung zu treten, in der er es wünschte. Es ist der Stil, der unser Zutrauen erweckt – und nur der Stil. Die meisten unserer modernen Porträtmaler werden notwendig in vollkommene Vergessenheit geraten. Sie malen niemals, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht gar nichts.
Cyril. Nun endlich möchte ich den Schluß deines Artikels hören.
Vivian. Sehr gerne. Ob er von irgendwelchem Nutzen sein wird, weiß ich wirklich nicht zu sagen. Nur so viel weiß ich, daß unser Jahrhundert das geistloseste und nüchternste ist, das man sich denken kann. Was meinst du, selbst der Gott des Schlafes hat uns betrogen und hat die Tore aus Elfenbein geschlossen, und die Tore aus Horn geöffnet. Nichts hat mich je so entmutigt, wie die beiden dicken Bände van Myers und die Verhandlungen der Physical Society über die Träume unserer mittleren Volksschichten. Sie enthalten nicht einmal eine schöne Alpvorstellung. Sie sind trivial, schmutzig und langweilig. Was die Kirche angeht, so gibt es nach meinem Dafürhalten nichts Günstigeres für die Kultur eines Landes, als Menschen, die es für ihre Pflicht halten, an das Übernatürliche zu glauben und täglich Wunderwerke zu verrichten, denn dadurch nähren sie jenen mythenbildenden Geist, der die Seele der Phantasie ist. Unter englischen Theologen aber gelangt immer der zu Ehren, der fähig ist, zu zweifeln, nicht der, der fähig ist, zu glauben. In unserer, und nur in unserer Kirche steht der Skeptiker am Altar und wird der heilige Thomas als der ideale Apostel hingestellt. Mancher ehrwürdige Pfarrer, der sein Leben lang bewunderungswürdige Taten der Menschenliebe verübte, lebt und stirbt, ohne jemals bemerkt und bekannt zu werden; aber es genügt schon, daß irgendein seichter, ungebildeter Kandidat, der mit Ach und Krach sein Examen bestand, auf die Kanzel tritt und sich über die Arche Noahs oder den Esel Balaams oder den Walfisch des Jonas skeptisch äußert, und halb London eilt herbei, um ihn zu hören und mit aufgerissenem Munde dazusitzen, ganz in Bewunderung seines unerhörten Scharfsinns verloren. Das Überhandnehmen des ›common sense‹ in Dingen der Religion ist etwas, was in England nicht genug bedauert werden kann. Es bedeutet das eine höchst törichte und degradierende Einwilligung in eine tiefstehende Art des Naturalismus. Es entspringt einer vollkommenen psychologischen Unkenntnis. Die Menschheit kann an Dinge glauben, die unmöglich sind; sie wird nie an Dinge glauben, die unwahrscheinlich sind. Aber ich will meinen Artikel zu Ende lesen:
»Es ist auf alle Fälle unsere Pflicht, diese alte Kunst des Lügens aufs neue zu beleben. Schon im Familienkreise, auf Gesellschaften und literarischen Zusammenkünften kann man auf diese Erziehung des Publikums hinwirken, obgleich dies nur die lustige und anmutige Seite des Lügens ist, wie sie wohl auf den Diners der alten Kreter gehandhabt wurde. Es gibt aber noch viele andere Arten. Das Lügen, durch das man sich einen unmittelbaren persönlichen Vorteil verschafft – das Lügen mit moralischer Absicht, wie man zu sagen pflegt – gilt bei uns für unmoralisch, galt aber bei den Alten für durchaus berechtigt. Athene lacht, als sie die ränkevollen Worte des Odysseus vernimmt, und die Pracht der Lüge schmückt die bleiche Stirn der makellosen Helden Euripideischer Tragödien und stellt die junge Braut einer der herrlichsten Oden des Horaz unter die edelsten Frauen der Vergangenheit. Was zunächst nur ein natürlicher Instinkt war, wurde späterhin der Gegenstand zielbewußter Pflege. Daraus entwickelte sich eine ganze Lehre, um die Menschheit zu leiten, und entstand eine wichtige Schule des Schrifttums. In der Tat, wenn man sich erinnert, wie prachtvoll Sanchez diese Frage philosophisch behandelt, kann man nur bedauern, daß noch niemand auf den Gedanken kam, eine treffende Auswahl der Werke dieses großen Kasuisten in einer billigen Ausgabe zu veröffentlichen. Eine elegante und nicht zu teuere Ausgabe einer kurzgefaßten Anleitung ›Wie und wann man lügen soll‹ würde zweifellos viel gekauft werden und sicherlich vielen gewissenhaften und tiefdenkenden Menschen von wahrem praktischem Nutzen sein. Das Lügen, um die Jugend zu vervollkommnen, das die Grundlage der häuslichen Erziehung bildet, ist hier und da noch bei uns Sitte, und seine Vorteile sind in den ersten Büchern der Politeia von Plato in so bewunderungswürdiger Weise dargestellt, daß ich auf sie an dieser Stelle nicht einzugehen brauche. Es ist eine Art des Lügens, für die alle guten Mütter ein besonderes Talent haben; sie ist aber noch weiterer Ausbildung fähig, was von den Schulmeistern leider nicht beachtet wird. Das Lügen um des jährlichen Gehaltes willen ist, wie sich von selbst versteht, in den Volksparteien weit verbreitet und der Beruf dessen, der politische Leitartikel schreibt, hat gewiß seine Vorteile. Nur soll es ein langstieliges Amt