Der junge Goedeschal. Ханс ФалладаЧитать онлайн книгу.
Zurücktreten machte das Geräusch ihrer Schritte verstummen, sie kehrte um und drückte von einer neuen Hoffnung belebt die Klinke.
»Kai! Du bist doch drin! Mach auf! Bitte. Bitte.« Sie rüttelte am Griff.
Er faßte nach ihm. Seine beiden Hände darunterstemmend, zwang er ihn in die Höhe.
»Läßt du den Griff los! Sofort läßt du den Griff los!« rief sie und versuchte mit ihrer ganzen Kraft, ihn hinabzudrücken. Er widerstand, dann, plötzlich loslassend, trat er laut pfeifend zurück, faßte das Kaninchen an den Ohren und warf es zurück in den Käfig.
»Du willst also nicht aufmachen?« Sie wartete. »Dann bleibt nichts, als es Papa zu sagen.« Wieder Stille, dann ging sie, er hörte die Treppenstufen unter ihr knacken.
»Gott sei Dank!« Er schloss langsam auf, blickte den leeren Gang entlang, dann: »Das kann böse werden. – Ach was! Sie sagt ihm nichts. Er wäre sicher nicht einverstanden. Der wollte es klüger machen. – Aber nun dalli!«
Er hob den Käfig hoch, trug ihn in den Kokskeller und verbarg ihn in einer dunklen Ecke. »Hier mußt du schon aushalten, mein Hans, mein Hase, es kommen bessere Tage.« Dann schaffte er schnell die Heu- und Kohlreste fort, schüttete ein paar Arme Holz in die Ecke des Zimmers und schloss befriedigt ab.
Am Frühstückstisch saß nur Kurt. Kai fragte leichthin: »Wo ist denn die alte Dame?«
»Was hast du nur wieder angestellt, Kai! Sie weinte!«
»So ein Quartaner! Willst auch gleich weinen, ja? – Donnerwetter! Donnerwetter! Schon drei Viertel auf acht! Es wird Zeit, daß ich losgehe.«
Auf der Treppe besann er sich. »Was denn noch? Ja so! ›Jettchen Gebert‹! Ilse ist ja auch noch da! Ilse ...«
13
Kai sah Ilse nicht auf seinem Schulweg. Er mußte eilen, um wieder einmal zur rechten Zeit das Gymnasium zu erreichen; über die Treppen hastend, empfand er trüb die fleckige Grauheit der Atmosphäre um sich, die aus Öl und Staub zusammengetrocknete speckige Kruste des Linoleums wollte seinen Schritt hemmen, die ungefügen, plumpen Säulen, deren monotone Bäuche vom Berühren zahlloser Hände schwärzlich beschattet waren, erinnerten ihn an die stumpfe Klebrigkeit seiner Finger, deren fehlende Frische die Länge des vor ihm liegenden Tages ins Unermessbare ausdehnte. Es schien, als zerrisse in ihm die überspannte Stimmung zu einem flockigen Schleier, der den kleinen Staubballen glich, die man beim Reinmachen in den dunklen Ecken der Schränke findet. Die langen Reihen von Kleiderhaken, an rohe Fichtenbretter geheftet, sagten ihm von neuem, daß er nur einer von vielen sei, die Türen, deren Füllungen, von Trockenheit geborsten und verschoben, gelbe Risse zeigten, waren Barrikaden, so viele schon unter Leiden überklettert, die schlimmsten noch vor ihm liegend.
In dem von Johlen und Schreien strudelnden Klassenzimmer schoß Wellhöhner auf ihn zu und forderte das lateinische Skriptum. Vergessen, natürlich vergessen. »Habe ich Zeit gehabt, daran zu denken? Auch Arne sagte gestern nichts, auch Klotzsch nicht.«
»Hast du das Skriptum, Klotzsch?«
»Natürlich! Du nicht? Au weh!«
Kai schob die Bücher unter seine Bank. Von Lärm umrissen, senkte er den Kopf in seine Handflächen und ließ die Augen über die abgeschliffene Glätte des Pultdeckels gleiten, der von Tinte befleckt die sinnlosen Stricheleien endloser Stunden vorwies. »So viel Entmutigung!«
»Agoraphobie!« schrie Wellhöhner und stürzte klatschend einen Stoß Hefte auf das Pult des Ordinarius. »Ich sage euch Agoraphobie!« Er schwieg, dann rascher, indem er einen sichernden Blick zur offenen Tür warf: »Ich klapperte mit den Schlittschuhen, Scheide riß sich los, schrie: ›Spion!‹ und raste die Straße hinauf. Ich hintennach.«
»Was soll ich tun mit dem Skriptum?« sann Kai, »ich werde sagen, ich war krank. Aber vielleicht war ein Pauker auf dem Ball?«
Wellhöhner strich mit der Hand über sein Kinn. »Seine Frau sagte mir, es sei Wahnsinn, daß ich mit klappernden Schlittschuhen Scheide nach Haus brächte. Ich wüßte, er litte an Agoraphobie. Ich als Primus! Und so weiter. – Nonsens!«
»Was ist Agoraphobie? Muß doch was dran sein«, fragte Thümmel.
»Rindvieh«, schrie Lohmann, »Agora – der Markt, der Platz; Phobos – die Furcht. Platzangst, Verfolgungswahn! Das wußten wir lange.«
»Darum holt ihn die Frau!«
»Oder Wellhöhner muß ihn abliefern.«
»Keinen Schritt geht er allein!«
»Ist er schon je vom Pult heruntergegangen?!«
»Vielleicht ist er heute krank davon –?«
Die Klasse schwieg, sah sich an, grinste. Kai grübelte: »Scheide krank? Das wäre Rettung für mich. Nein, ich will nicht hoffen.«
Am Arm vom Kollegen Bäcker kam Scheide den Gang herauf. Geschwindschritt. An der Tür stehenbleibend, sprach er hastig, überlaut; plötzlich, mitten im Satz, riß er sich los, sprang aufs Pult, deckte den Rücken mit der Schultafel. Bäcker schloss die Tür, und der Unterricht begann, überstürzt rief Oberlehrer Scheide zwei, drei Schüler auf, überhörte die Antworten; dann, ruhiger geworden, ließ er in voriger Stunde Besprochenes sich wiederholen. Seine weißen, zu schmalen Finger fuhren rastlos durch den roten Vollbart. Die blauen Augen durchflogen scharf die verstummte Klasse.
Sorgfältig den Rücken deckend, warf er den wundervoll geformten Schädel zurück, daß die schon gelichteten Haarsträhnen im Zuge flogen.
Kai, zusammengesunken, fragte: »Warum darf ich nicht hoffen? Was wird werden?«
Da, mitten im Fragen, setzte Scheide aus. »Primus«, krähte er laut und bohrte den Zeigefinger begeistert in die Luft. »Gehen Sie sofort ins Konferenzzimmer. Lassen Sie sich die Hefte der Klasse ausliefern. Ich werde die ›Philologische Facharbeit‹ zurückgeben. Sie sollen Ihr Wunder erleben. Los!«
An Wellhöhner vorbei suchte sich Schütt unbemerkt in die Klasse zu drängen. Mit einer Wendung des Kopfes hatte ihn Scheide entdeckt. »He, Schütt! Wo kommen Sie her? Es ist halb neun! Ich werde Sie mit Karzer bestrafen! Was? Ihre elektrische Bahn kam nicht! Gehen Sie früher fort!« Er riß das Klassenbuch auf, während er laut sprach, malte er hinein: »Schütt wird wegen einer halben Stunde Verspätung mit zwei Stunden Karzer bestraft. Was? Sie sind nicht zufrieden! Setzen Sie sich! Was stehen Sie hier, Mensch? Setzen Sie sich!«
Er klappte das Buch zu. »Natürlich werde ich Sie nicht bestrafen. Wenn Sie dumm bleiben wollen, nur zu!«
Mit raschem Griff nahm er Wellhöhner einen Stoß Hefte ab und scheuchte ihn auf seinen Platz zurück. »Charakterisierung von Sallusts ›Bellum Catilinae‹, das war das Thema. Keiner hat's gebracht. Die meisten haben abgeschrieben. Franke, Sie indolenter Mensch, Auszüge aus dem großen Meyer kann ich mir selbst machen. Was, Sie wollen protestieren! Ja, sind wir denn in einer Kleinkinderschule?«
Er sah sich fragend um. »Gewogen und zu leicht befunden. Einwühlen, denken, selber denken, nicht so obenhin. Das ›Bellum Catilinae‹ ist ein Genuss, kein Sibirien. Alles schlechte Noten. Ob Sie sich schämen, weiß ich nicht. Schütt, unterhalten Sie sich in der Pause mit Ihrem Nachbarn. Beste Arbeit hat Goedeschal. Goedeschal, stehen Sie auf!«
›Aber ich will nicht. Was soll ich hier vor den andern? Ans Licht gezerrt stehe ich mit der Gebärde eines sich Vordrängenden.‹
»Sie sollten sich am meisten schämen! Ihren Gedanken fehlt Klarheit. Sie haben nicht gedacht, Sie haben geträumt. Die Klasse hört den Schluss: ›Und doch, wenn wir das ganze Werk noch einmal durchblättern, finden wir nur eine Stelle, in der Sallust wirklich schön und anschaulich schreibt. Und diese Stelle lautet: Catilina wurde weit entfernt von seinen Leuten zwischen den Leichnamen der Feinde gefunden, ein wenig noch atmend, und den trotzigen Sinn, den er im Leben besessen, noch im Tode verratend.‹ – Sie haben das gefühlt, Goedeschal, nicht gedacht. Lächerlich, daß dies die anschaulichste