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Erzählungen und Fragmente. Лев ТолстойЧитать онлайн книгу.

Erzählungen und Fragmente - Лев Толстой


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zu weinen begann, da erblickte ich in ihr den lebendigen Gott, und ich begriff, wodurch die Menschen leben. Ich begriff, daß Gott mir nun auch das letzte Wort offenbart hatte und daß er mir verziehen hatte. Da lächelte ich zum dritten Mal.«

       XII.

      Die Gewänder fielen von dem Körper des Engels herab, helles Licht umstrahlte ihn, so daß das menschliche Auge ihn nicht anblicken konnte. Seine Stimme wurde mächtig, als käme sie nicht aus ihm, sondern vom Himmel herab, und der Engel sprach:

      »Ich begriff, daß ein jeder Mensch nicht durch die Sorge um sich selbst lebt, sondern durch die Liebe. Es war der Mutter nicht gegeben, zu wissen, was ihre Kinder fürs Leben brauchen. Es war dem reichen Manne nicht gegeben, zu wissen, was er selber brauchte, und keinem einzigen Menschen ist es gegeben, zu wissen, ob er noch Stiefel braucht, oder ob er schon Leichenschuhe anziehen muß, ehe der Tag sich neiget. Und ich selbst, als ich ein Mensch geworden war, ich blieb am Leben nicht dadurch, daß ich für mich selber sorgte, sondern dadurch, daß ein vorübergehender Wanderer und dessen Frau Nächstenliebe empfanden, daß sie Mitleid mit mir hatten und mich lieb gewannen. Und die Waisen, sie blieben am Leben nicht dadurch, daß andere für sie sorgten, sondern dadurch, daß im Herzen einer fremden Frau die Liebe wohnte, daß sie Mitleid mit ihnen hatte, sie lieb gewann. Und alle Menschen, sie leben nicht, weil sie selber für sich sorgen, sondern weil Liebe in den Menschen wohnet. Früher wußte ich nur, daß Gott den Menschen das Leben gegeben hat und daß er will, sie sollen leben; jetzt habe ich auch noch ein anderes begriffen. Ich habe begriffen: Gott hat nicht wollen, daß die Menschen jeder für sich leben, daher hat er ihnen nicht offenbart, was jeder für sich braucht: er wollte, daß sie gemeinsam leben, und daher zeigt er ihnen, was sie alle brauchen für sich und für die andern. Und ich verstand: es scheint den Menschen nur so, als wenn sie durch die Sorge für ihr eigenes Ich leben, in Wahrheit aber leben sie nur durch die Liebe. Wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott ist die Liebe.«

      Und der Engel begann das Lob Gottes zu singen, und von seiner Stimme erbebte das Haus, die Decke tat sich auf und eine Feuersäule erhob sich von der Erde bis zum Himmel. Semjon aber und seine Frau und die Kinder sanken auf die Knie. Auf dem Rücken des Engels entfalteten sich Flügel und er flog empor zum Himmel.

      Als Semjon zu sich kam, war alles im Zimmer wie früher und niemand war da als er und die Seinen.

      1 Säuerliches Getränk aus Wasser und Schwarzbrotteig.

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