Tom Sawyers Abenteuer. Mark TwainЧитать онлайн книгу.
10 Uhr erreichte er die abgelegene Straße, in welcher seine unbekannte Angebetete wohnte. Alles still, kein Laut schlug, an sein Ohr; nur der Schimmer einer Lampe drang durch die Vorhänge eines Fensters im zweiten Stock. Beherbergten diese Räume ihre geheiligte Person? Er kletterte über den Zaun, stahl sich leise durch die Gartengewächse bis zum Fenster. Lange und in tiefer Bewegung betrachtete er es; dann streckte er sich darunter auf die Erde nieder, die Hände auf der Brust zusammengefaltet, seine arme, zerknickte Blume in denselben. So wollte er sterben, allein in der kalten Welt, ohne Obdach über seinem heimatlosen Haupte, ohne eine freundliche Hand, ihm den Todesschweiß abzutrocknen, ohne ein über ihn gebeugtes, liebendes Gesicht im Todeskampf. So würde sie ihn beim ersten Blick in den neuen, fröhlichen Morgen finden. O! würde sie auch nur eine einzige Träne über seine kalte, leblose Form weinen, würde sie seinem so früh zerstörten jungen Leben nur einen einzigen Seufzer weihen?
Plötzlich öffnete sich das Fenster. Die schrille Stimme eines Dienstmädchens entweihte die heilige Stille und eine wahre Sintflut plätscherte auf die Reliquien des armen Märtyrers hernieder.
Fluchend sprang der gequälte Held empor. Ein Stein sauste, bald folgte das Klirren einer zerschmetterten Scheibe, eine kleine, flüchtige Gestalt überstieg den Zaun und verlor sich in rasender Eile im Dunkel. Bald darauf stand Tom ausgekleidet im Schlafzimmer und untersuchte seinen durchnässten Anzug beim Scheine eines Talgstummels. Sid erwachte; die Lust zu einigen beißenden Bemerkungen verging ihm beim ersten Blick in Toms unheilverkündendes Auge. Ohne sich der Belästigung des Nachtgebetes zu unterziehen, schlief Tom ein und Sid nahm gebührende Notiz von dieser Unterlassungssünde.
Viertes Kapitel
Geistige Seiltänzerei – Besuch der Sonntagsschule – Der Superintendent – Paraden – Tom als Löwe
Über einer ruhigen Welt erhob sich die Sonne und begrüßte das friedliche Dorf mit ihren segensreichen Strahlen.
Das Frühstück war vorüber und Tante Polly hielt Familienandacht. Sie begann mit einem, aus einer Reihe von Bibelstellen bestehenden, durch eigene Ergüsse zusammengekitteten Gebet. Dann folgte eines der blutigen Kapitel des mosaischen Gesetzbuches, das sie, wie vom Sinai herunter, vorlas.
Tom aber gürtete seine Lenden, und bereitete sich, seine Schulaufgaben zu machen. Sid war damit schon vor mehreren Tagen fertig geworden. Tom raffte all' seine Energie zusammen, um fünf Bibelsprüche auswendig zu lernen, und hatte sie klugerweise aus der Bergpredigt gewählt, weil er keine kürzeren finden konnte. Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er einen unbestimmten Begriff von seiner Aufgabe, aber nicht mehr, denn seine Gedanken durchwanderten das ganze Gebiet menschlichen Fühlens und seine Hände waren beschäftigt mit allerhand zerstreuenden Treibens. Mary ergriff das Buch, um ihn zu überhören und er suchte sich einen Weg durch den ihn umgebenden Nebel zu bahnen.
»Selig sind die A–A–«
»Armen –«
»Ja, die Armen a–a–«
»Am Geiste –«
»Am Geiste. Selig sind die Armen am Geiste, denn sie – denn sie –«
»Denn ihrer –«
»Denn ihrer. Selig sind die Armen am Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. – Selig sind die Trauernden, denn sie – denn sie –«
»So–«
Denn sie s–«
»Sol–«
»Denn sie sol– ach ich weiß nicht!«
»Sollen –«
»Ja, Sollen! Denn sie sollen – denn sie sollen – hm – sol– hm – sol– sollen trauern, denn sie – hm – Selig sind die da sollen – die da – hm – die da trauern sollen – denn sie sollen – sollen – was sollen sie, Mary? Warum sagst du mir es nicht? Wie kannst du so gemein sein?«
»O, Tom, du armer Dummkopf, ich will dich ja nicht plagen. Aber du musst von vorne anfangen. Verliere den Mut nicht, Tom; du wirst es schon fertig bringen und dann sollst du auch etwas recht Schönes von mir bekommen. So, nun fange wieder an!«
»Gut, Mary, aber was ist es, Mary? Sage mir, was es ist?«
»Du wirst es schon sehen. Du weißt, wenn ich sage, es ist schön, so ist es schön.«
»Ich glaube dir, Mary. Nun denn, so will ich wieder dran!«
Und er ging wieder dran – und unter dem doppelten Antriebe der Neugierde und des zu erwartenden Lohnes mit solchem Eifer, dass er einen glänzenden Erfolg errang. Mary gab ihm ein funkelneues Taschenmesser im Wert von zwölf und einem halben Cent; und das Entzücken darüber erschütterte sein ganzes Wesen bis in die Fundamente. Zwar war es unmöglich, irgend etwas mit dem Messer zu schneiden; dessen ungeachtet war es ein echtes Bowie-Messer, und darin eben lag ein unschätzbarer Wert; denn es ging ein Gerücht unter den Jungen des Westens, dass auch falsche, nachgemachte Bowie-Messer in den Handel kämen. Tom probierte es zuerst am Glasschranke und war eben im Begriff, den Sekretär zu attackieren, als er abberufen wurde, um sich zur Sonntagsschule anzukleiden.
Mary gab ihm ein Zinnbecken mit Wasser und ein Stück Seife. Er ging vor die Türe und setzte das Becken auf eine kleine Bank, tauchte die Seife ins Wasser und legte sie daneben. Dann stülpte er die Hemdsärmel zurück, goss das Wasser behutsam auf die Erde, ging in die Küche und begann sich mit dem hinter der Tür hängenden Handtuch das Gesicht abzureiben. Doch Mary nahm ihm das Tuch weg.
»Pfui, Tom, schäme dich! Was soll das heißen? Fürchtest du das Wasser?«
Tom war beschämt. Er füllte das Becken von neuem, betrachtete es einen Moment, um Mut zu fassen, stieß einen tiefen Seufzer aus und begann. Bald kehrte er mit geschlossenen Augen in die Küche zurück, und während er mit beiden Händen nach dem Handtuch tastete, rieselten ihm als beredte Zeugen seiner Anstrengung Ströme von Wasser und Schmutz über das Gesicht herab. Mit Abtrocknen zu Ende, ward er aber nichts weniger als befriedigend befunden. Eine scharfe Linie teilte sein Gesicht in zwei Felder, das eine, gewaschene, erstreckte sich wie eine Maske von der Stirne bis zum Kinn und den Wangen, – das andere, unbewässerte, umfaßte Ohren, Hals und Nacken. Mary musste ihn in die Hände nehmen und als sie fertig war, und ihm die Haare gekämmt und die Locken zierlich zurecht gebürstet hatte, sah er aus, wie seine übrigen Nebenmenschen. (Tom verachtete lockiges Haar. Er hielt es für weibisch; seine eigenen Locken waren ihm ein Quell der Bitterkeit, und er suchte sie mit großer Mühe und Arbeit an den Kopf anzuplatten.) Dann brachte Mary Kleider zum Vorschein, die er erst zwei Jahre Sonntags getragen hatte, und die nur seine »andern Kleider« hießen. Somit kennen wir den Umfang seines Kleidervorrats. Das Mädchen rückte das Vernachlässigte seines Anzugs zurecht, knöpfte ihm die Jacke zu, legte ihm den Hemdkragen um, gab einen letzten Bürstenstrich, und krönte ihn mit seinem gesprenkelten Strohhut. Er sah nun ganz anständig, aber sehr unbehaglich aus, denn ganze Kleider und Reinlichkeit waren ihm in der Seele zuwider. Er hoffte, Mary würde die Schuhe vergessen, sah sich aber getäuscht. Sie brachte sie, nach damaliger Sitte tüchtig mit Talg geschmiert. Er wurde ärgerlich und meinte, sie verlange alles von ihm, was er hasse. »Tom, sei lieb, bitte!« Brummend fuhr Tom in dieselben. Mary war bald bereit, und die drei Kinder machten sich auf den Weg zur Sonntagsschule, welche Tom von ganzem Herzen hasste, die beiden andern aber lieb hatten. Die Sabbatschulstunden dauerten von 9 bis 11 Uhr, und dann begann der Kirchendienst. Zwei der Kinder blieben immer freiwillig, Tom auch, aber aus gewichtigeren Gründen. Die Kirche war nur ein kleines, einfaches Gebäude, auf dessen hochlehnigen, ungepolsterten Sitzen etwa 300 Personen Platz fanden, mit einer Art Baumkasten als Turm darauf.
Am Tor blieb Tom einige Schritte zurück und näherte sich einem sonntäglich gekleideten Knaben.
»Höre Billy, hast du ein gelbes Billet?«
»Ja!«
»Was willst du dafür?«
»Was gibst du?«