Bürde der Lust. Waldemar PaulsenЧитать онлайн книгу.
Mensch hat die Vergangenheit gern, wenn man sie ihm von der Stirn ablesen kann.
Kapitel 1
Club „Marita“ in Hamburg-Blankenese
“Ich geh’ mal kurz auf den Hof eine rauchen“, waren die letzten Worte, die in den frühen Morgenstunden des Montags, am 14. Juli 1975, um 02:45 Uhr, von der Edel- Prostituierten Sabrina zu hören waren.
Die üppige Bardame Biene bestätigte Sabrinas Bemerkung mit einem leichten Kopfnicken, während sie die Dirne durch die eiserne Notausgangstür nach hinten in die Dunkelheit verschwinden sah. Es waren nur noch vier Gäste in dem Nobelbordell anwesend, die Reihen lichteten sich bereits zunehmend.
Sabrina ging ein paar Schritte in Richtung der Sitzbank, die auf dem Parkplatz unter einem mächtigen Bergahorn stand. Der Baum hatte seine 200 Jahre auf dem Buckel. Ein laues Lüftchen wehte. Es würde wohl wieder ein angenehmer Sommertag werden.
Sie wollte einen Moment allein sein und ihre Gedanken ordnen. Dieses zarte Geschöpf war zwanzig Jahre alt und von kindlicher Statur. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sabrina hatte eine sehr elegante Erscheinung, ihre geheimnisvolle Aura und der leicht slawische Akzent, trug zu einer erheblichen Gewinnmaximierung des Club Marita bei. Der Bordellbesitzer Karl-Heinz Bis, genannt Puff-Kalle, schmeichelte ihr gern damit, dass sie die Top eins seines Etablissements sei. Sie war eben das Superweib in dieser Dienstleistungsfiliale.
Während die Prostituierte etwa zwei Meter vor der Bank stand und sich eine Zigarette anzündete, sah sie einen schmier bauchigen Mann in einem weißen Feinrippunterhemd hinter einem beleuchteten, geöffneten Fenster in der dritten Etage der neben dem Parkplatz befindlichen Villa stehen. Aus dem Fenster drang weißer Zigarettenrauch nach außen, der sich über das Dach des Wohngebäudes verflüchtigte.
Sabrina dachte an ihren großzügigen „Hubsi“ und dass dieser sie wie ein zu eng geschnürtes Korsett immer mehr einengte.
Plötzlich spürte sie, dass irgendetwas hinter ihr ihre Kehle zuschnürte und sie schlagartig kaum noch Luft bekam. Ihre Atemnot wurde immer bedrohlicher und ging in ein mühsames Gurgeln über.
Ihre Augen wölbten sich nach außen, die zarten Lider mit den dichten Wimpern bedeckten sie nicht mehr ganz, es blieben zwei weiße Streifen übrig. Es war der Blick des Todes, der sie ergriffen hatte.
Sowohl die Zigarettenschachtel, die sie in der Hand hielt, als auch die noch zwischen ihren Lippen befindliche Kippe, fielen zu Boden. Sie rang ein letztes Mal keuchend nach Luft, dann knickten ihre Beine kraftlos ein. Schwarze und weiße Sterne explodierten wie ein Feuerwerk in ihrem Kopf. Ein unerträglicher Schmerz raste vom Hals in ihr Herz und dann hoch in ihr Hirn, wo er wie tausende Glassplitter explodierte. Verzweifelt stöhnend griff sie hinter sich, um sich an den fremden auf- und abschwingenden Körper an ihrem Rücken zu klammern. Dabei krallte sie sich mit der linken Hand an der Kleidung ihres Angreifers fest, um irgendeinen letzten Halt zu finden.
Jetzt war nur noch ein ersticktes Röcheln von der Prostituierten zu hören, die verzweifelt krampfte und dabei langsam zu Boden sackte. Ihre letzten Laute waren ein leises Pfeifen, bevor sie ein für alle Mal verstummte. Jemand hatte ihr blitzschnell eine Schlinge um den Hals gelegt und diese kräftig zugezogen. Als Letztes hörte sie nur noch im Todeskampf ein schwaches Flüstern: „Auf Wiedersehen in der Ewigkeit.“
Mit ausgestreckten Armen, angewinkelten Beinen und weit aufgerissenen Augen lag die Nummer eins des Bordells rücklings auf dem dreckigen Parkplatz und bekam nicht mehr mit, wie die heimtückisch handelnde Person leise mit widerlichem Gelächter zischte: „Wer nicht hören will, der muss fühlen!“
Der Kopf der Leiche war zur Seite gedreht und die linke Hand zu einer Faust verkrampft.
Der Täter war bei dem Kampf mit dem rechten Fuß in einer Senke des asphaltierten Parkplatzes umgeknickt. Er war der Länge nach auf den harten Boden gestürzt. Hektisch hatte er sich mit einem leisen Fluchen erhoben. Die heftigen Schmerzen im Sprunggelenk waren kaum noch auszuhalten. Beide Handrücken wiesen deutlich erkennbare Hautabschürfungen auf, die ein starkes Brennen verursachten. Es fehlte noch, dass diese Verletzungen dazu beitragen würden, nicht mehr dem Tatort entrinnen zu können.
„Weg hier, einfach nur weg“, dachte der Täter. Deutlich hinkend und schmerzverzerrt schleppte sich die hasserfüllte Gestalt in gebeugter Haltung vom Tatort in Richtung Straße, nicht ohne zuvor einen letzten Blick auf das leblose Opfer zu werfen.
Die Wolken am Himmel rasten aufeinander zu, als wollten sie sich gegenseitig auffressen. Für einen kurzen Moment war der Mond zu sehen, der hell durch die Blätter der nahestehenden Bäume leuchtete.
Dann war nur noch ein tiefes Brummen zu hören, gepaart mit dem sonoren Sound eines Achtzylinders, der sich mit quietschenden Reifen von dem Tatort entfernte.
Die männliche Gestalt am geöffneten Fenster der Nachbarsvilla war ebenfalls verschwunden, das Fenster geschlossen und die Innenbeleuchtung ausgeschaltet.
Kapitel 2
Der Bordellbesitzer Karl-Heinz Bis, genannt Puff-Kalle, kam aus seinem Büro und ging in den Barbereich, wo Biene Gläser spülte, nachdem der letzte Gast das Haus verlassen hatte.
„So, Biene, Feierabend, es ist vier Uhr. Wir machen Schluss. Wo steckt denn eigentlich Sabrina? Ihr Freier von der Behörde ist doch schon um halb drei gegangen.“
„Weiß ich nicht, hast du eigentlich Recht. Gegen drei habe ich sie auf den Parkplatz gehen sehen. Sie wollte eine rauchen. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen.“
„Hm, komisch… - ich seh’ mal nach“, sagte Kalle Bis und verschwand nach draußen auf den Hinterhof.
Der Parkplatz war leer. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung sah Kalle seine einträglichste Geldmaschine unmittelbar vor der Sitzbank auf dem geteerten Boden liegen. Mit einer dunklen Vorahnung eilte er mit großen, unsicheren Schritten über den jahrzehntelang strapazierten und mit Löchern versehenen Asphalt auf die am Boden liegende Gestalt zu. Nachdem er einen Arm der Dirne angehoben hatte und dieser sofort wieder schlaff auf den Asphalt zurück fiel, als er ihn losließ, schlug er ihr zwei kräftige Ohrfeigen in das hübsche Gesicht. Kalle stöhnte laut auf:
„Schnitte, Schnitte, was ist?“ Er zerrte mit angstvoller Miene weiter an ihr. Keine Reaktion…Panisch rannte er zurück ins Bordell und schrie:
„Biene, Biene, Sabrina…, oh, eine Scheiße ist das!“
„Was ist?“, fragte die Bardame Biene erstaunt, während sie eine Whiskyflasche ins Regal stellte.
„Die…, also die, sie scheint tot zu sein, tot. Kapierst du das?
Liegt da so einfach im Hof mit einem dünnen Kabel um den Hals… und ihre Augen, ihre Augen! Wusste gar nicht, dass die so große Augen hat“, stammelte Kalle und begann, an Armen und Händen zu zittern.
Der Geschmack des Todes war immer noch in seinem Mund. Seine Wangenfalten bebten unkontrolliert und gaben ihm ein furchtsames Aussehen.
„Oh, mein Gott; und nun…? Wir müssen die Bullen rufen, war ja keiner von uns“, rief die Bardame Biene erregt.
Woher wollte sie denn wissen, ob der Täter nicht dem Rotlicht-Milieu zugehörig war?
„Nein…, nicht sofort!
Erst mal müssen Eva und Vera weg, sind doch erst siebzehn und vierzehn. Wenn die Schmiere sie hier entdeckt, gibt’s gleich wieder eine dicke Lampe für mich wegen Förderung der Prostitution Minderjähriger und ich kann womöglich den Laden dichtmachen…Sind doch mein bestes Kapital. Die Freier stehen auf Junghühner!“
Kalle` s Stimme klang in diesem Moment hohl und leer. Er schien die Situation und die daraus resultierenden Folgen noch nicht gänzlich begriffen zu haben.
„Kalle, bleib ruhig, die kriegen meinen Wohnungsschlüssel.