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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo DeutschЧитать онлайн книгу.

Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch


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wie Sie behaupten?“

      „Jawohl, ich bin Buligin aus Moskau“, antwortete ich. „Lesen Sie den betreffenden Bescheid vor“, befahl der Staatsanwalt seinem Schriftführer.

       Dieser las mit gleichgültig trockener, amtsmäßiger Stimme ein Schriftstück vor, das augenscheinlich aus Moskau von irgendeiner Verwaltungsbehörde stammte. Das Schriftstück besagte klipp und klar, dass in Moskau keine Person dieses Namens vorhanden sei, auf die die Personalien passen? [Das hatte schon seine Richtigkeit. Der Pass auf den Namen Buligin war gefälscht; mein Genosse, der auf diesen Pass reiste, trug einen anderen Namen.]

      „Was haben Sie dazu zu sagen?“ fragte Herr v. Berg kalt und höhnisch.

      Ich fühlte, dass mir das Blut aus dem Gesichte wich und meine Knie zitterten. Aber ich beherrschte mich sofort und begann meine Verteidigung. Ich sprach schnell, erregt und überzeugend.

      Es war mir sofort klar, dass ich vor der Entscheidung stand, ich fühlte den Boden unter meinen Füßen weichen. Die Befürchtungen, dass man sich mit der russischen Regierung verständigt hatte, erfüllten sich, und es galt den Kampf ums Leben. – Da ich schon oft diese Eventualität erwogen hatte, so war ich vorbereitet und hatte mir einen Verteidigungsplan zurechtgelegt.

      „Hören Sie“, wandte ich mich an den Staatsanwalt, „ich erkläre Ihnen, dass ich Buligin bin, aber ich gestehe zu, dass ich nicht aus Moskau stamme, dass alle meine Aussagen in Bezug auf meine Personalien falsch sind. Ich war hierzu gezwungen in Anbetracht der Behandlung, die mir hier in Freiburg zuteilwurde, und in Anbetracht vor allem der in Russland herrschenden Zustände. Diese Zustände, die Sie nicht kennen, muss ich Ihnen schildern: Es ist nichts Seltenes bei uns, dass irgend ein junger Mensch der Gendarmerie denunziert wird, weil er ein in Russland verbotenes Buch besitzt; er wird verhaftet; aber nicht nur er, sondern man sucht aller Personen habhaft zu werden, die mit ihm verkehrten, deren Adressen man zufällig bei ihm fand; seine Wohnung wird von Spionen überwacht, man ergreift jeden, der in diese Wohnung kommt. Ganze Familien werden auf diese Weise verfolgt und beunruhigt, und das geringste ist noch, wenn den derart Beteiligten nur unendliche Scherereien entstehen; sehr oft können die unschuldigsten Menschen monatelang aus derartigen Gründen eingekerkert werden.

       „Als ich nun aus der demokratischen Schweiz nach dem konstitutionellen Deutschland kam, ohne irgendwelche Absichten, die nach deutschem Gesetz ein Vergehen involvieren, musste ich sofort erfahren, dass die Art und Weise, wie man hier zu verfahren beliebt, wenigstens Ausländern gegenüber, sich nicht sehr von der in Russland üblichen unterscheidet. Ich erfuhr es am eigenen Leibe, dass man hier, ohne irgendwelche gesetzliche Formen einzuhalten, unter gänzlicher Ignorierung der ‚Garantien der Unantastbarkeit der Persönlichkeit’, jeden beliebigen Menschen durch gewöhnliche Polizeidiener verhaftet; die Polizei nimmt ohne richterlichen Befehl eine Aussuchung in meinem Hotelzimmer vor und behandelt mich, der ich mir in Deutschland nicht das geringste habe zuschulden kommen lassen, wie einen Verbrecher. Man steckt mich ins Gefängnis und lässt mich zwei Tage lang darin, ohne mich vor den Richter zu führen. Ja, man verhaftet – genau wie in Russland – eine junge deutsche Staatsbürgerin und schleppt sie ohne alles weitere ins Gefängnis. Ich hatte also keinen Grund, den Versicherungen des Untersuchungsrichters zu trauen, dass es sich hier nur um ein gesetzliches Gerichtsverfahren handelt, sondern ich musste annehmen, dass neben dem Gerichte die Polizeigewalt tätig ist, und dass diese sich mit den russischen Behörden verständige. – Das eben verlesene Schriftstück beweist, dass ich recht hatte. Nun wohl: Hätte ich dem Richter meine wirklichen Personalien mitgeteilt, so würden diese, wie sich jetzt zeigt, den russischen Behörden mitgeteilt worden sein, und natürlich hätte man diese auch benachrichtigt, dass man mich hier verhaftet hat, weil ich zwei Koffer voll in Russland verbotener Schriften mit mir führte. Die Polizei hätte also unfehlbar in der Stadt, woher ich stamme, ihr Spiel in der geschilderten Weise getrieben; man hätte die Meinigen belästigt, bei meinen Brüdern und Schwestern, die meine Anschauungen teilen, hätte man vielleicht verbotene Schriften gefunden, man hätte sie und vielleicht noch zahlreiche andere Personen in den Kerker geschleppt. – Russland ist kein Rechtsstaat, und deshalb musste ich mich hier in Deutschland vorsehen, dass nicht dort Unheil entsteht, wenn ich hier vor dem Gericht die Wahrheit sage.“

      „Sie behaupten also“, sagte der Staatsanwalt mit unverhohlener Wut, „Sie seien Buligin, aber Ihr Heimatsort sei nicht Moskau, und Sie verweigern die Angabe Ihres wirklichen Heimatsortes?“

      „Jawohl, ich weigere mich aus den angeführten Gründen.“

      „Lesen Sie den nächsten Bericht vor“, gebot Herr v. Berg abermals, und der Schriftführer las:

       „Der sich in Freiburg, im Großherzogtum Baden, befindende Häftling, der sich Buligin nennt, ist in Wirklichkeit niemand anders als Leo Deutsch, der in Gemeinschaft mit Jakob Stefanowitsch, abgesehen von anderen schweren Verbrechen, im Mai 1870 einen Mordversuch gegen Nikolaus Gorinowitsch verübt hat. Daher ersucht die Regierung Seiner Majestät des Kaisers von Russland durch ihren Gesandten die Regierung Seiner Hoheit des Großherzogs von Baden um die Auslieferung der beiden namhaft gemachten Personen. Gleichzeitig sieht sie sich verpflichtet, die Aufmerksamkeit der deutschen Behörden darauf zu richten, dass benannter Leo Deutsch schon mehrfach aus der Haft ausgebrochen ist; es wird daher ersucht, bei der Inhaftierung sowohl als bei dem Transport Leo Deutsch besonders scharf überwachen zu lassen.“

      Ich habe das Schriftstück nahezu wortgetreu angeführt, denn obwohl seither nahezu zwei Jahrzehnte vergangen sind, ist es mir noch heute gegenwärtig.

      „Alles ist aus!“ fuhr es mir durch den Sinn, und die düstersten Bilder tauchten vor mir auf...

      „Was haben Sie hierauf zu erwidern?“ vernahm ich die trockene Frage des Staatsanwalts und sah, wie er boshaft triumphierend lächelte.

      Ich raffte mich gewaltsam auf.

       „Was mir da verlesen wurde“, sagte ich so ruhig wie mir irgend möglich war, „wundert mich durchaus nicht. Es entspricht genau dem, was ich über das Verfahren der russischen Regierung gehört habe. Das Spiel ist klar: wenn die russische Regierung eines harmlosen russischen Sozialisten habhaft werden will, der in einem Rechtsstaate verhaftet wurde, so wird diese Regierung nicht zugeben, dass der Betreffende der ist, für den er sich ausgibt, sondern sie wird ihm den Namen eines Deutsch oder irgendeiner anderen Persönlichkeit geben, die mit einer Gewalttat in Verbindung gebracht werden kann. Das ist nicht neu; so wurde zum Beispiel auf diese Weise Rumänien veranlasst, einen gewissen Katz auszuliefern, den man alsdann ohne jedes Gerichtsverfahren auf „administrativem Wege“, wie es bei uns heißt, nach Sibirien verbannt hat. Man will es augenscheinlich mit mir ebenso machen. Den besten Beweis, dass sich die Dinge so verhalten, sehe ich darin, dass in dem Schriftstück die russische Regierung nicht nur mich unter dem Namen Deutsch ausgeliefert haben möchte, sondern auch die Auslieferung des Stefanowitsch wünscht, obgleich dieser schon längst in Russland selbst verhaftet und zu Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken verurteilt worden ist, und obgleich bei der Gerichtsverhandlung seine Beteiligung an dem Mordanschlag gegen Gorinowitsch überhaupt nicht in Frage kam. Es ist also klar: die russische Regierung verlangt die Auslieferung des Stefanowitsch, obwohl dieser bereits in ihrer Gewalt ist, weil sie bei der nächsten Gelegenheit wieder irgendeinen friedlichen Sozialisten als Stefanowitsch bezeichnen wird. Was ich gesagt habe, wird Ihnen Professor Thun bestätigen können, der nicht nur unsere Zustände im Allgemeinen, sondern auch unsere revolutionäre Bewegung genau kennt.“

      Damit war das Verhör beendet. Als ich in meiner Zelle die Gedanken sammeln konnte, war ich vollständig niedergedrückt. Meine Auslieferung war sicher, es blieb mir noch die Hoffnung auf die Flucht. Aber auch diese Hoffnung war dahin, wie mir sofort klar wurde. Infolge des Hinweises der russischen Regierung auf mein „mehrmaliges“ Ausbrechen – in Wirklichkeit war ich nur zweimal ausgebrochen – hatte man sofort nach diesem Verhör einen besonderen Wächter an meine Tür postiert, der nicht von der Stelle wich und jede meiner Bewegungen beobachtete. Die übrigen Schließer waren natürlich gleichfalls instruiert, mich scharf zu überwachen, und, was früher niemals der Fall gewesen, der Oberaufseher Roth war bei dem beschriebenen Verhör und allen Gesprächen die ganze Zeit zugegen.

      Sofort nach der Mittagspause wurde ich abermals dem Staatsanwalt vorgeführt. Er schien


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