Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo DeutschЧитать онлайн книгу.
mit, da ich Student sei und an der Universität in Freiburg studieren wolle.
Der Gasthof war bald erreicht und ein Zimmer gefunden, worauf ich mich in das Restaurant begab, um das Abendessen zu nehmen. Als ich am Büfett vorbeiging, sah ich den Hausdiener eifrig mit einem anderen Manne, augenscheinlich dem Hotelier, flüstern. Kaum hatte ich gegessen, als mir der Kellner das Meldebuch präsentierte. Da ich einen russischen Reisepass bei mir führte, den mir ein Freund zur Verfügung gestellt hatte, schrieb ich ohne weiteres den Namen „Alexander Buligin aus Moskau“ ein.
Ich bestellte darauf Schreibzeug und begab mich auf mein Zimmer. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als angeklopft wurde. Auf mein „Herein!“ erschien an Stelle des Dieners mit dem Schreibzeug, den ich erwartet hatte, ein Schutzmann in Begleitung eines Herrn in Zivil.
„Ich bin Beamter der Geheimpolizei“, stellte sich der letztere vor. „Gestatten Sie, dass ich nachsehe, was Sie in Ihren Koffern haben.“
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Verhaftung in Freiburg
Verhaftung in Freiburg
„Da Freiburg in der Nähe der Grenze liegt, so wittert die Polizei, der der Hoteldiener die Ankunft eines jungen Menschen mit auffallend schweren Koffern gemeldet hat, Konterbande, oder gar man hält mich für einen Anarchisten und glaubt, ich führe Dynamit mit mir, ,fuhr es mir durch den Sinn. Ich suchte also eine möglichst harmlose Miene aufzusetzen, obgleich ich fühlte, dass die Sache schief ging. Mit dem Öffnen der Koffer beschäftigt, ließ ich wie von ungefähr die Bemerkung fallen, dass der eine die Garderobe meiner Frau enthalte, die ebenfalls hier eintreffen werde.
Kaum hatten sich die Herren über den Koffer hergemacht, ich schon, dass meine Annahme in Bezug auf Konterbande falsch war: der Beamte fahndete offenbar weder auf Konterbande noch auf Dynamit, sondern gerade auf Bücher, denn er begann sofort diese zu mustern. Ich schloss daraus, dass man bei mir deutsche sozialdemokratische Schriften suche. Desto mehr war ich verblüfft, als der Polizist beim Anblick eines kleinen Buches in rotem Umschlage triumphierend rief: „Da haben wir's ja!“
Es war das der „Kalender der Narodnaja Wolja“, ein Buch, das vor Jahresfrist erschienen war und offen in den Buchhandlungen Deutschlands verkauft wurde. „Jetzt muss ich eine körperliche Visitation an Ihnen vornehmen“, erklärte mir der Geheimagent.
Außer einem Notizbuch, einem Brief und einer Brieftasche mit einigen Hundertmarkscheinen fand sich in meinen Taschen noch ein Dutzend Nummern des Züricher „Sozialdemokrat“, die ich mitgenommen hatte, um sie einem russischen Freunde in Deutschland zu senden.
„Na, das kann man wenigstens lesen!“ erklärte hocherfreut der „Geheime“, als er den Titel gesehen. „Jetzt verhafte ich Sie!“
„Wieso, warum?“ fragte ich betroffen.
„Das werden Sie schon erfahren; kommen Sie mit!“ war die Antwort.
Das Vorgehen der Beamten war in jeder Hinsicht sonderbar: von Erfüllung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der persönlichen Sicherheit war keine Rede; die Durchsuchung wurde vorgenommen, ohne dass ein richterlicher Befehl vorlag, Zeugen waren nicht zur Stelle, ein Protokoll über das Ergebnis der Durchsuchung wurde nicht aufgesetzt. Schließlich musste ich selber darauf dringen, dass die Beamten wenigstens in meiner Anwesenheit das Geld nachzählten, das sich in der beschlagnahmten Brieftasche befand, obgleich das natürlich eine recht ungenügende Garantie für die Sicherheit meines Eigentums war.
Als ich nun als Gefangener zwischen den beiden Schutzengeln die Treppe hinabstieg, kam uns eine junge Dame mit einer kleinen Reisetasche in der Hand entgegen. Der Beamte fragte mich, ob dies etwa meine Frau sei? Trotz meiner verneinenden Antwort, versuchte er die Dame anzuhalten. Sie mochte glauben, es mit einem Don Juan zu tun zu haben, und floh unter lautem Geschrei auf die Straße. Der Geheimagent gab nun dem Schutzmann den Befehl, mich weiterzuführen, und lief der Unbekannten nach.
Der Schutzmann versuchte nun, mich am Arm zu fassen und so über die Straßen zu führen, doch widersetzte ich mich schroff einer derartigen Behandlung, indem ich erklärte, ich hätte kein Verbrechen begangen, und es liege für ihn keine Berechtigung vor, in dieser Weise mit mir umzugehen.
So gelangten wir in das Freiburger Untersuchungsgefängnis. Hier wurde ich abermals einer körperlichen Visitation unterzogen, und ein Beamter richtete jetzt, zum ersten Mal seit meiner Verhaftung, an mich die Frage nach meinen Personalien. Bald erschien auch der Geheimagent und führte die Dame herein, die laut weinte, ihre absolute Unschuld beteuerte und in höchster Aufregung unter lautem Geschrei Aufklärung verlangte, weshalb man ihr diese Schmach antue. Nach all den vorangegangenen Erlebnissen seit meiner Ankunft in Freiburg setzte mich die Szene in die höchste Erregung.
„Was ist denn das?“ herrschte ich den Beamten an. „Wie können Sie sich unterstehen, die Dame zu belästigen? Ich wiederhole nochmals, ich kenne sie nicht, es ist nicht meine Frau, ich habe sie nie im Leben gesehen.“
„Nun, das wird sich zeigen, das ist meine Sache! Es geht Sie gar nichts an, wen wir verhaften!“
„Nette Zustände! Ganz wie bei uns in Russland“, dachte ich. Darauf wurde mir befohlen, einem Wächter zu folgen, der mich in das erste Stockwerk begleitete.
Kreischend flog das Schloss einer Zellentür auf: ich befand mich im großherzoglichen badischen Gefängnis! Die Zelle war, nachdem der Wärter mit der Laterne sich entfernt, vollkommen finster, und absolute Stille umgab mich. Mangel an Licht, sowohl in den Zellen als auf den Gängen, gehörte hier zur Hausordnung.
Ich orientierte mich, so gut es ging, indem ich tastend die Wände entlang schlich, fand ein Bett und warf mich angekleidet nieder. Meine Sinne tobten chaotisch durcheinander; ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, vermochte mir keine Rechenschaft über das Geschehene zu geben. Das Schicksal brach über mir zusammen, meine Kraft war gelähmt. Wüste Träume ließen mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen; fortwährend fuhr ich aus dem Schlummer auf, nicht imstande, mir klar zu machen, wo ich war und was mit mir vorgeht. Als ich endlich mit äußerster Willensanstrengung so weit war, meine Lage einigermaßen klar zu überlegen, erfasste mich Verzweiflung: Die Auslieferung nach Russland stand mir bevor, das war im ersten Augenblick die feste Sicherheit für mich! Zwar bestand damals kein Auslieferungsvertrag zwischen Russland und Deutschland in Bezug auf politische Flüchtlinge, [Ein solcher Vertrag wurde erst im Herbst 1885 geschlossen.] doch hatte ich Gründe, anzunehmen, dass man mich ausliefern würde. – Um dem Leser klar zu machen, was das für mich bedeutete, muss ich einiges aus meiner Vergangenheit mitteilen.
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Aus der revolutionären Vergangenheit
Aus der revolutionären Vergangenheit
Genau zehn Jahre vor den geschilderten Vorgängen – im Jahre 1874 – hatte ich mich, damals ein Jüngling von neunzehn Jahren, der sogenannten „propagandistischen Bewegung“ angeschlossen, die zu jener Zeit einen bedeutenden Teil der studierenden Jugend in allen Gegenden Russlands erfasst hatte. Wie die meisten der jugendlichen „Propagandisten“ war ich hierbei geleitet von unendlichem Mitleid für die Leiden und Entbehrungen des Volkes. Nach unseren Anschauungen war es heilige Pflicht eines jeden ehrlichen und konsequenten Menschen, der sein Vaterland wirklich liebte, alle Kräfte in den Dienst der Befreiung des Volkes von dem wirtschaftlichen Drucke, der Versklavung, der Barbarei, in der es gehalten werde, zu stellen. Die Jugend, die stets des lebhaftesten Mitgefühls mit dem Unglück anderer fähig ist, konnte nicht gleichgültig bleiben angesichts der trostlosen Lage, in welcher sich der kurz vorher von der Leibeigenschaft befreite Bauer befand. Als einziges Mittel, die bestehende elende materielle Lage und den ganzen auf dem Volke lastenden Druck zu beseitigen, erschien den „Propagandisten“ die soziale Umwälzung in Russland; der Lehre der Sozialisten Westeuropas folgend, stellten sie sich als Ziel die Abschaffung des Privateigentums an Boden