Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle ReithЧитать онлайн книгу.
Kein Patient ist identisch mit einem anderen, auch wenn es bei den EmKE grobe Gemeinsamkeiten gibt, die als Symptom-Komplexe zusammengefasst werden. Der multisystemisch erkrankte Patient benötigt die personalisierte, interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung.
Abb. 2.2/1 Die „Multis“ der EmKE
COVID-19
Mit dem Post-COVID-19-Syndrom (Spätfolgen einer COVID-19-Infektion) entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuen multisystemischen Komplex-Erkrankung. |
Auch hier zeigen die üblichen Standard-Untersuchungen keine Befunde. Betroffene erleben und erleiden die typischen Merkmale, bzw. Hindernisse wie andere multisystemisch komplex Erkrankte, z. B. die Verharmlosung der Symptome, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. In Kapitel 10 wird die COVID-19 Erkrankung und das Post-COVID-Syndrom (PCS) beschrieben.
Ein hochaktuelles Thema
In Fachpublikationen wird zunehmend von multisystemischen Erkrankungen oder Beschwerden berichtet. Die Datenbank PubMed® zeigt die erste Publikation für den Suchbegriff „multisystem“ für das Jahr 1958. Es dauerte 54 Jahre, bis die Zahl der Publikationen 2012 vierstellig wurde (1.013 Publikationen). 2020 verzeichnet PubMed® einen sprunghaften Anstieg mit einer Verdoppelung der Publikationen von 1.404 im Jahr 2019 auf 2.214. Am 10.5.2021 hat die Zahl der Publikationen schon fast den Stand des Jahres 2019 eingeholt.
In Zusammenhang mit COVID-19 Erkrankungen wird beispielsweise die Bezeichnung „Multisystem Inflammatory Syndrome in Children“ verwendet. Seit Juni 2020 gibt es mehrere Berichte über ein ähnliches multisystemisches Entzündungssyndrom bei Erwachsenen, das als „Multisystem Inflammatory Syndrome in adults“ bezeichnet wird.
2.2.1 Erworbene Multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE
Multisystem-Erkrankungen
In der Fachliteratur und in wissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed® wird der Begriff „Multisystemische Erkrankung“ je nach Autor enger oder weiter gefasst verwendet, er kann z. B. alle (Zivilisations-)Erkrankungen einschließen oder sich auf einzelne Erkrankungen (z. B. Sarkaidose) beziehen.
Multisystem-Erkrankungen nach Prof. Pall
Im vorliegenden Buch geht es um sehr komplexe, erworbene Multisystem-Erkrankungen, die unter dem Einfluss der Industrialisierung zunehmen. Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Der Titel des Buches lautet: Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others. 2.2.1/1 Pall Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „unerklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für das Chronische Erschöpfungssyndrom, Multiple Chemikalienempfindlichkeit, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere.
Prof. Martin L. Pall beschreibt insbesondere folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte Krankheitsbilder:
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS
mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten (PEM, bzw. PENE). } Siehe Kapitel 7
Fibromyalgie-Syndrom/FMS
Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung. } Siehe Kapitel 8
Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS
Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch. } Siehe Kapitel 9
Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“
Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten. } Siehe Kapitel 11
Prof. Pall:
„In Anlehnung an andere Wissenschaftler bezeichne ich diese vier Erkrankungen als Multisystemerkrankungen. Ich stelle […] die Behauptung in Frage, dass diese Krankheiten und sogar ihre Symptome ungeklärt sind. Ich beabsichtige, eine detaillierte Erklärung für die allen vier Krankheiten gemeinsamen Mechanismen und Symptome anzubieten.“ 2.2.1/2 Pall
Prof. Pall erläutert, dass diese vier Erkrankungen mutmaßlich ursächlich durch den komplexen Nitrosativen Stress-Zyklus (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind und behandelt werden können. Er beschreibt an anderer Stelle weitere, verwandte Multisystem-Erkrankungen.
Krankheitsspektrum Multisystem-Erkrankungen
„Wir behaupten, dass die Multisystemerkrankungen wirkliche Erkrankungen sind, die von diesem Mechanismus verursacht werden, auch wenn es sich um Erkrankungen handelt, die sich von Individuum zu Individuum stark unterscheiden können, weil die zugrunde liegenden biochemischen Prozesse in verschiedenen Geweben auftreten.
Mit anderen Worten: diese Multisystemerkrankungen bilden ein Krankheitsspektrum.“ 2.2.1/3 Pall
Die Annahme, dass sowohl ME/CFS, MCS; FMS und PTBS sowie weitere chronische Erkrankungen eine gemeinsame Ätiologie aufweisen, wurde zuvor schon 1994 von Dedra Buchwald und Deborah Garrity, 2.2.1/4 Buchwald, Garrity 1995 und 1999 von Albert Donnay und Grace Ziem 2.2.1/5/2.2.1/6 Donnay, Ziem und 1999 von Claudia S. Miller postuliert. 2.2.1/7 Miller
Erworbene multisystemische (Komplex-) Erkrankungen/EmKE
ME/CFS, MCS und FMS werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst, um sie – da sie den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand darstellen – von verwandten multisystemischen Erkrankungen abzugrenzen. Das schließt nicht aus, dass auch weitere verwandte Erkrankungen als EmKE bezeichnet werden können.
Die Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. die „Komplexe PTBS“, gilt in der etablierten Medizin als psychische Erkrankung und unterscheidet sich in der Ätiologie, nicht jedoch in anderen Merkmalen von ME/CFS, MCS und FMS.
„Erworben“ bedeutet, dass die Beschwerden, bzw. die Erkrankungen im Laufe der Lebensspanne neu aufgetreten sind.
Bezeichnungen für Multisystem-Erkrankungen
In anderen Zusammenhängen werden von Wissenschaftlern und Behandlern weitere Bezeichnungen für komplexe, multisystemische Erkrankungen verwendet. In Kapitel 31 werden Bezeichnungen beschrieben, die von Vertretern einer biopsychosozialen Sichtweise verwendet werden. Sie verstehen die Vielzahl der Symptome als Folge eines dysfunktionalen Verhaltens. Im weiteren wenden wir uns hier jedoch den Bezeichnungen zu, die der komplexmedizinischen Sichtweise entsprechen.
Der US-amerikanische Arzt und Autor Neil Nathan spricht beispielsweise von „Complex medical illnesses“, der US-amerikanische Arzt für funktionelle Medizin Eric Gordon bezeichnet sie als „Complex Chronic Illnesses“, es gibt in Kalifornien ein „Center for Complex Diseases“. Der Begriff „Environmentally Acquired Illness“ betont die umweltbezogene Entstehung.
Es gibt eine ganze Reihe von Erkrankungen, die unter diesen Begriffen subsummiert werden. Dazu gehören: Dysautonomie, Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung, Sick-Building-Syndrom/SBS, Elektromagnetische Hypersensitivität/EHS, Chronisches Schmerzsyndrom, das Golfkriegs-Syndrom, Borreliose, Ehlers-Danlos-Syndrome und viele weitere. } Siehe Kapitel 10 und folgende
Was ist ein Syndrom?Ein einzelnes Krankheitszeichen (wie z. B. Fieber) wird „Symptom“ genannt; mehrere Krankheitszeichen zusammen ergeben Symptom-Muster, bzw. einen „Symptomkomplex“. Musterhaft |