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Die Bestie im Menschen. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.

Die Bestie im Menschen - Emile Zola


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für den Dienst an der Barriere, den jetzt Flore versah. So sah ihre hoffnungslose Gegenwart, so ihre hoffnungslose Zukunft aus; keine Aussicht auf ein besseres Leben, als in diesem, tausend Meilen von jedem lebenden Wesen entfernten Loche sterben zu müssen. Davon erzählte sie Jacques aber nichts, welchen Trost sie gehabt, ehe sie erkrankte, als ihr Gatte noch als Streckenarbeiter thätig war und sie mit ihren beiden Töchtern den Dienst an der Barriere allein versehen mußte. Ihr Ruf als der einer schönen Frau war damals ein so weit verbreiteter, daß die Strecken-Inspectoren nie an ihrem Häuschen vorübergingen, sie erweckte sogar Nebenbuhlerschaft, so daß selbst die abgelösten Aufseher mit verdoppelter Aufmerksamkeit stets unterwegs waren. Der Gatte genirte nicht; er war zu Jedermann unterwürfig, glitt zur Thür hinaus, ging und kam, ohne etwas zu merken. Leider aber waren diese Vertröstungen nun vorüber. Jetzt war sie in dieser Einsamkeit wochen- und monatelang an diesen Stuhl gefesselt und fühlte von Stunde zu Stunde ihren Körper mehr und mehr abnehmen.

      »Ich sage Dir,« schloß sie, »er stellt mir nach und so klein er ist, er wird mit mir fertig werden.«

      Ein plötzliches Anschlagen der Signalglocke ließ sie ihren unstäten Blick wieder nach draußen richten. Der weiter oben stationirte Wärter meldete Misard einen nach Paris gehenden Zug, und der Zeiger des vor dem Fenster angebrachten Kantonnements-Apparates hatte sich gemäß der Richtung des Zuges geneigt. Misard stellte den Läuteapparat ab und trat ins Freie, um den Zug durch zweimaliges Tuten zu signalisiren. Flore zog in demselben Augenblick die Barriere nieder, dann präsentirte sie die in dem Lederfutteral steckende Fahne. Man hörte den hinter einer Kurve herannahenden Zug, einen Schnellzug, mit wachsendem Dröhnen sich nähern. Wie ein Blitz, der das erzitternde Häuschen bedrohte, fuhr er inmitten eines Orkans vorüber. Flore war inzwischen bereits zu ihren Gemüsebeeten zurückgekehrt, während Misard erst das Signal gab, daß die Strecke in der Richtung des soeben passirten Zuges gesperrt sei, und dann durch den Druck des Hebels das rothe Licht verlöschen machte, als Zeichen, daß die entgegengesetzte Richtung frei sei. Ein abermaliges Läuten, verbunden mit einer entsprechenden Bewegung des zweiten Zeigers verkündeten ihm, daß der vor fünf Minuten vorübergekommene Zug bereits den nächsten Posten passirt habe. Er trat in die Bude, meldete es den beiden nächsten Wärtern, schrieb die Passagezeit ein und wartete. Immer der gleiche Dienst, den er durch zwölf Stunden täglich versah; in seiner Bude lebte er, aß er, ohne jemals drei Zeilen einer Zeitung zu lesen, ja selbst ohne einen Gedanken in seinem flachen Schädel zu fassen.

      Jacques, der seine Pathe ehedem mit den Verwüstungen neckte, die sie in dem Herzen der Weginspectoren anrichtete, konnte sich nicht enthalten, lächelnd zu sagen:

      »Vielleicht ist er eifersüchtig.«

      Phasie aber hatte nur ein mitleidiges Achselzucken, während sich ein Lächeln aus ihren armen gebleichten Augen drängte.

      »Du, mein lieber Junge, sagst das? ... Er eifersüchtig! Er hat sich den Teufel um mich gekehrt, seit ich ihm nichts mehr einbrachte.«

      »Nein, nein,« fuhr sie zitternd fort, er machte sich nichts daraus, er macht sich nur aus dem Gelde etwas ... Es hat ihn geärgert, daß ich ihm nicht die tausend Franken gab, die ich im vorigen Jahre von meinem Vater erbte. Er drohte mir, das brachte mir Unglück, ich erkrankte ... Ich bin seitdem nicht wieder gesund geworden, ja, seitdem nicht mehr.«

      Der junge Mann verstand, er glaubte an schwarzseherische Gedanken der leidenden Frau und versuchte sie ihr auszureden. Aber ihr eifriges Kopfschütteln belehrte ihn, daß sie darüber ihre eigenen, unzerstörbaren Ansichten habe, so daß er schließlich sagte:

      »Nichts ist einfacher, um der Geschichte ein Ende zu machen: Geben Sie ihm die tausend Franken.«

      Wie von einer außergewöhnlichen Kraft getrieben, schnellte sie empor.

      »Meine tausend Franken, niemals!« rief sie aufgebracht heftig aus. »Eher will ich krepiren ... Ah, sie sind gut geborgen, gut versteckt. Das Haus kann man auf den Kopf stellen, man wird sie doch nicht finden ... Er hat genug gekramt, der Schuft! Ich habe es in der Nacht recht gut gehört, wie er an die Mauern klopfte. Such, Such! Sehen möchte ich, wie er mit der langen Nase abzieht, das Vergnügen würde meine Geduld wieder stärken ... Möchte wissen, wer zuerst locker lassen wird, er oder ich. Ich bin mißtrauisch, ich esse nur, was auch er verzehrt. Und selbst wenn ich zusammenbrechen sollte, so würde er die tausend Franken doch nicht bekommen. Lieber lasse ich sie in der Erde.«

      Sie fiel erschöpft und von dem abermaligen Getute erschreckt in den Stuhl zurück. Misard war es, der auf der Schwelle seiner Wächterbude einen nach Havre gehenden Zug meldete. Trotz ihrer hartnäckigen Weigerung, ihm die Erbschaft anzuvertrauen, empfand sie dennoch eine heimliche, stetig zunehmende Angst vor ihm, die Furcht des Kolosses vor dem Insect, von dem er sich angefressen fühlt. Der signalisirte Zug, ein Lokalzug, der Paris um zwölf Uhr fünfundvierzig Minuten verlassen hatte, meldete sich durch dumpfes Rollen. Man hörte ihn den Tunnel verlassen, sein lauteres Keuchen unter freiem Himmel. Unter dem Donner seiner Räder passirte er dann mit der ganzen Wucht seiner Waggons wie ein unwiderstehlicher Sturmwind.

      Jacques erhobene Augen sahen die kleinen quadratförmigen Wagenscheiben vorüberfliegen, hinter welchen die Köpfe der Reisenden wie im Fluge sichtbar wurden. Er wollte Phasie von ihren düstern Gedanken abbringen und sagte:

      »Sie beklagen sich, liebe Pathe, nie eine Katze in diesem Loch zu sehen und, blicken sie dorthin, haben da eine ganze Welt!«

      »Wo? Eine Welt?« fragte sie erstaunt, weil sie nicht gleich begriff. »Ach so vorüberfahrende Leute. Da habe ich etwas Rechtes! Ich kenne sie weder noch kann ich mich mit ihnen unterhalten.«

      »Aber mich kennen Sie doch,« meinte er, noch immer lächelnd, »ich komme doch oft genug hier vorüber?«

      »Dich kenne ich allerdings; ich weiß, um wieviel Uhr Dein Zug hier vorbeikommt und ich passe Dir auf. Aber Du jagst vorbei, vorbei! Gestern hast Du so mit der Hand gemacht; ich konnte leider nicht antworten ... Nein, nein, auf diese Weise verkehre ich nicht gern mit der Welt.«

      Allein die Vorstellung von der Menschenmenge, welche die hin und her verkehrenden Züge durch die schweigende Oede täglich an ihr vorüberschleppten, stimmte sie doch nachdenklich und so blieb ihr Auge auf den Geleisen haften, auf welche bereits die Nacht herniedersank. Als sie noch auf ihren Füßen stand und ab und zu ging, ja, selbst wenn sie mit der Fahne im Arm vor der Barriere stand, hatte sie an dergleichen nie gedacht. Aber wirre, ihr selbst nicht faßbare Träumereien summten ihr durch den Kopf, seit sie ihre Tage auf diesem Stuhle zubrachte und an nichts weiter zu denken hatte, als an ihren stumpfsinnigen Kampf mit ihrem Manne. Es erschien ihr drollig, so verlassen in dieser Einode leben zu müssen und dabei täglich ununterbrochen einen Strom von Männern und Frauen im Sturmwind der dampfenden Eisenbahnzüge, die das Haus erzittern machten, vorüberflüchten zu sehen. Wohl möglich, daß dort die ganze Welt passirte, nicht nur Franzosen, auch Fremde, Leute aus fernen Gegenden. Heutzutage bleibt ja keiner mehr zu Hause hocken und, wie es hieß, würden ja alle Völker bald ein einziges bilden. Das heißt man Fortschritt. Alle sollen Brüder sein und gemeinsam in das gelobte Land fahren. Sie versuchte sie zu zählen, einen Durchschnitt zu finden, so und so viel in jedem Waggon: aber sie kam nicht weit, es wurden ihrer zu viele. Oft glaubte sie Physiognomien zu erkennen, die eines Herrn mit blondem Barte, gewiß ein Engländer, der in jeder Woche einmal nach Paris fuhr; oder die einer kleinen brünetten Dame, welche jeden Mittwoch und Sonnabend vorüberkam. Aber wie der Blitz waren sie wieder fort, sie war nicht einmal sicher, ob sie jene auch wirklich gesehen habe, denn die Gesichter tauchten ineinander, verwischten sich und verschwanden eins in das andere, als wären sie alle von einer Form und einem Aussehen. Der Strom fluthete vorüber und hinterließ keine Spuren seines Daseins. Besonders aber stimmte es sie traurig, daß während dieses ewigen Vorbeirollens, inmitten dieses spazieren gefahrenen Wohllebens und Reichthums, diese fortwährend in Bewegung befindliche Menschenmenge von Phasie's Dasein keine Ahnung hatte, nicht wußte, daß diese sich in Lebensgefahr befand, ja daß, wenn ihr Mann eines Abends sein Werk vollbracht haben würde, selbst dann die Eisenbahnzüge beständig sich neben ihrem Leichname kreuzen und nicht einmal das im Innern dieses einsamen Häuschens begangene Verbrechen beargwöhnen würden.

      Phasie's Augen blieben am Fenster haften. Ihre wirren Empfindungen zu erklären,


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