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Im Schatten der Dämmerung. Marc LindnerЧитать онлайн книгу.

Im Schatten der Dämmerung - Marc Lindner


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      So gerne der auflebende Zwerg es glauben wollte, so ließ er sich doch nicht von den bescheidenen Täuschungsversuchen über­zeugen. Doch noch sah er keinen Weg, sich für seine Befreiung zu bedanken und seinem Freund – er war gerne bereit den an sich fremden Menschen als solchen zu bezeichnen – seine Hilfe darzubieten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als vorerst den Weg aus diesem Tunnellabyrinth zu suchen. Er konnte sich noch an jede Windung, jede Abzweigung des Ganges erinnern, durch den die Hünen ihn in sein Verlies gebracht hatten. Nicht nur weil sie es für unnötig gehalten hatten, ihm die Augen zu verbinden, konnte er jeden Stein wiedererkennen. Viel genützt hätte es ohnehin nicht, denn er war ein Kind der Erde. Sein Leben lang hatte er unter der Erde zugebracht und immer waren es steinerne Gänge gewesen, die seine Wege umschlungen hatten. So wie einer der im Wald aufwächst sich nie in einem solchen verlaufen könnte, so tat es auch niemals ein Zwerg, wenn er sich im Schoß seiner geliebten Mutter Erde befand. Jeder Gang hatte seinen eigenen unverwechselbaren Geruch. Nicht nur die feuchte Luft, die den Duft des Steines in sich trug, verriet ihm, wo sie dran waren. Sicherlich – im Vergleich zu seiner Heimatsstätte – war der Geruch von abgestandenem Wasser an diesem Ort wahrlich einnehmend, und doch waren es andere Gerüche, die Almar leiteten. So wie die Stimmen des Waldes fast, so sprach der Stein zu ihm. Nicht mit Worten, nicht einmal wirklich hörbar und doch so, dass sich der Zwerg der Geschichte des Berges nicht entziehen konnte. Die Feuchtigkeit trug diese Gerüche nur noch deutlicher aus dem Felsen heraus. Es waren die Adern des Berges, die Almar unwiderstehlich wahrnahm. Erze, Steine, Salze und unzählige andere Elemente und Verbindungen malten ihr eigenes Bild im wachen Geist des Zwerges, der nicht blind, nicht taub und unachtsam für die Erzählungen des ihn umgebenden Felses war. Jeder Gang verriet ihm seine Geheimnisse. Nicht nur, dass er bemüht sein sollte, den Weg zu finden, so ärgerte er sich zudem mit welch Unverstand die Menschen ihre Gänge in den Felsen gebissen hatten. Er roch förmlich die blinde Wut, mit der sie gegen seine Mutter Erde vorgegangen waren. Nicht nur die vielen ächzenden Stützen waren bleibende Spuren die er deutlich lesen konnte. Die Menschen hatten sich in dem Felsen festgebissen, ohne von ihrem Willen abzuweichen, hatten sie sich durch die festen Schichten gekämpft, anstatt – so wie es die Zwerge stets taten – der Stimme des Gesteins zu lauschen und sich von ihm den Weg in die Tiefe zeigen zu lassen.

       Obwohl die Gänge der Zwerge deutlich großzügiger waren – auch wenn es wegen ihrer bescheideneren Größe nicht nötig wäre –, so ließen sie dem Berg dennoch sein hartes Gestein, um die zahlreichen Gänge tragen zu können. Hier aber erkannte der Zwerg wieder einmal die Unfähigkeit der Menschen nachzugeben. Selbst wenn es zu ihrem Nutzen gewesen wäre. Aber die Menschen – wie es ihnen ihre Königin immer predigte – waren weder bereit zu teilen, noch sich anzupassen. Sie wollten herrschen. Nicht nur über ihr Reich, nein, auch über die Natur und alle Wesen, die dort lebten. Doch man konnte die Erde, die Natur vielleicht bekämpfen, wenn man denn wirklich so blind und dumm sein wollte, man könnte sie sogar in den Niedergang treiben, aber siegen könnte man nicht. Es war einfach kein Kampf, selbst wenn die Menschen es so sehen wollten. Aber es würde mit dem eigenen Untergang enden. Während der Zwerg weiter dem Pfad unter der Erde folgte, schürte sich erneut seine Wut gegen das Volk der Menschen und er wusste, dass diese sich viele Feinde machten. Mit leicht betrübter Miene beäugte er von Zeit zu Zeit den armselig neben ihm her schreitenden Menschen. Seltsam war für ihn, dass obwohl all diese Wut in ihm aufstieg, er nicht anders konnte, als Mitleid für seinen Weggefährten zu empfinden. Er fragte sich, ob er ihm alles erzählen sollte, was er wusste. Doch er entschied sich dagegen, da die Last, die Tibur mit sich schleppte, groß genug war. Vielleicht würde der Krieg, der schon bald heraufziehen würde, diesen weit weniger berühren, als Almar es sich vorstellen konnte. Denn wie hatte Tibur gesagt: Er wolle die Freiheit nicht, weil er sie nicht mehr verlieren können wollte. Das war nicht sein Krieg, auch wenn er mit jenem den Weg teilte, der ihn in sein Land bringen konnte. Almar würde seiner Königin berichten, was er zu berichten hatte. Mehr lag nicht in seiner Macht. Die Königin würde die Entscheidung treffen. Aber er ahnte bereits, wie sie lauten würde. Dieses Wissen ließ seine Schritte schwerer werden, als er es je für möglich gehalten hatte.

      Tibur merkte nicht wie die zahllosen ineinander mündenden Gänge sie beide fortwährend höher trugen. Er schritt so selbst­verständlich, so teilnahmslos neben dem Zwerg her, wie in den Tagen zuvor hinter den Wächtern. Seine Gedanken waren aber noch mehr aufgewühlt und ungeordnet. Er wusste, dass er hier herauswollte, schließlich hatte er seit Tagen und Wochen den Moment herbeigesehnt, da er nicht mehr hier hinunter musste, und doch war er für jeden Schritt dankbar, den er noch in dieser abgeschiedenen Dunkelheit weilen konnte. Nur das flackernde Licht, das sie mit sich trugen und die scheinbar unbeschwerten Worte des Zwerges begleiteten ihn. Es schien als könnte der Zwerg – nun da er zu sprechen angefangen hatte – nicht mehr schweigen.

      Aber Tibur störte es wenig. Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Der Zwerg bedrängte ihn nicht, forderte nicht seine Aufmerk­sam­keit, sondern begleitete ihn mit seinen Worten, seiner kräftigen, dunklen Stimme. Was dieser sagte, bekam der Handwerker nicht mit, und doch verdrängte es die Kälte des Ortes. Ja, es verbannte auf seltsame Weise gar die lähmende Angst. Obwohl der Zwerg in Tiburs Welt zwischen der Wirklichkeit, dem Traum und Wahn nicht einzutreten vermochte, wirkte die wohlklingende Stimme wie ein Anker, an dem sich Tibur festhielt. Der Zwerg weilte am Rande von Tiburs Wahrnehmung und wartete darauf, dass Tibur sich hervorwagte. Almar erschuf mit seinen Worten einen beruhigenden Gesang. Es war für Tibur fern und doch berührte es ihn, so wie ein warmer Abendwind, der über eine auskühlende Ebene streicht. Bei Tibur schwand das erste Mal das Gefühl zu frieren. Er war auf einer langen Reise, das wusste er, und die Musik des Zwerges wurde zu seinem Herzschlag, der ihn in dieser Welt festhielt.

      „Wie können die eigentlich ein ganzes Gefängnis unbewacht lassen, diese Narren“, ärgerte sich der Zwerg, da ihm dies alles zu sonderbar vorkam, als dass er sich damit anfreunden konnte. „Wieso waren die Tore in so einem schlechten Zustand? Keines war mehr zu und fast alle waren halb verrostet oder ließen sich gar nicht schließen.“ Der Zwerg regte sich immer mehr auf, denn es machte ihm Angst. Es war zu einfach.

      Tibur sah verwundert zu seinem kleineren Freund hinunter. „Freu dich doch.“ Tibur teilte Almars Sorgen nicht.

      „Glaub mir, das tue ich auch, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Das stinkt gewaltig!“

      „Das ist ein uraltes Gefängnis, in dem du warst. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann überhaupt jemals einer dort eingesperrt war“, versuchte sich Tibur an einer Erklärung. Doch zu seinem Verdruss verlangte der rätselnde Blick des Zwerges weitere Erläuterungen.

      Tibur ließ ein resignierendes Stöhnen erklingen. „Schon der vorige Stadtherr hat ein neues Tunnelsystem anlegen lassen. Tief unter dem Palast befindet sich ein grausiges Gefängnis. Es soll nur einen einzigen Ausgang haben und dort befindet sich eine zwanzig Meter tiefe Leiter, die immer herausgezogen wird. Der Stadtherr wollte wohl seine Wachen einsparen. Diese Tunnel werden, wenn überhaupt, als Lager genutzt.“

      „Aber warum bin ich nicht dorthin gebracht wurden?“, wurde der Zwerg noch verärgerter.

      „Vielleicht wollte Thanatos oder der Stadtherr nicht, dass die Menschen wissen, dass ein Zwerg in unserer Stadt ist. Er sagt, ihr wäret ein blutrünstiges Gesindel. Und vielleicht ist das einfach nur eine Lüge.“

      „Und ob das eine Lüge ist!“ Der Zwerg brüllte verbittert und vergaß, dass sie sich in unsicheren Gängen befanden und jeden Augenblick entdeckt werden konnten.

      Tibur sah zu dem Zwerg herab und schüttelte verwirrt seinen zerstreuten Kopf. Er hatte vergessen, in welcher Gesellschaft er sich befand. Seine Gedanken waren weit abgeschweift und er hatte es seiner Zunge überlassen, die Worte zu wählen. „Verzeih, natürlich weiß ich es nun besser. Aber die anderen nicht. Wahrscheinlich wollten sie, dass es so bleibt. Denn nur so wird er seinen Krieg gegen euch führen können.“

      „Du sprichst als habest du ihm schon vorher nicht geglaubt?“ Almar nahm Tibur die schlecht gewählte Formulierung schon nicht mehr übel.

      „Wie soll ich einen hassen, den ich nicht kenne? Wie jemanden fürchten, den ich niemals sehe? Da habe ich weit mehr Angst vor diesem König. Seine Gier nach Macht scheint unersättlich. Seine makellosen Auftritte


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