Der Sturm-Heidehof. Emily BronteЧитать онлайн книгу.
ein Umstand, den ich in wachem Zustand wahrgenommen, nun aber vergessen hatte. »Und dennoch – der Lärm muß aufhören!« knurrte ich, zerschlug die Glasscheibe mit der Faust und streckte den Arm aus, um den zudringlichen Zweig zu ergreifen; statt dessen schlossen sich meine Finger um eine kleine kalte Hand! Mich überkam das grauenhafte Entsetzen eines Albtraumes: ich versuchte, den Arm zurückzuziehen, aber die Hand umklammerte fest die meine, und eine höchst traurige Stimme schluchzte: »Laß mich ein – laß mich ein!« – »Wer bist du?« fragte ich und mühte mich, mich von dem Griff zu befreien. »Catherine Linton«, antwortete es fröstelnd. (Warum dachte ich gerade Linton? Ich hatte Earnshaw wohl zwanzigmal mehr gelesen als Linton.) »Ich bin heimgekommen, ich hatte im Moor den Weg verloren!« Während es sprach, erkannte ich die schwachen Umrisse eines Kindergesichtes, das durch das offene Fenster blickte. Entsetzen machte mich grausam. Da es mir nicht gelingen wollte, das Geschöpf abzuschütteln, zog ich sein Handgelenk auf die zerbrochene Scheibe nieder und rieb es hin und her, bis das Blut niederrann und die Wagenkissen durchnäßte. Noch immer jammerte das Kind: »Laß mich ein!« und lockerte nicht seinen klammernden Griff; ich war fast wahnsinnig vor Entsetzen. »Wie kann ich?« antwortete ich schließlich, »laß mich los, wenn du willst, daß ich dich einlassen soll.« Die kleinen Finger lösten sich, ich zog meine Hand herein, türmte hastig die Bücher pyramidenartig vor das Loch und hielt mir die Ohren zu, um das jammervolle Bitten nicht mehr hören zu müssen. Wohl eine Viertelstunde, so schien es mir, hielt ich die Ohren geschlossen; doch sowie ich wieder aufhorchte, hörte ich das kummervolle Winseln: »Laß mich ein!«
»Geh weg«! rief ich, »ich werde dich nie einlassen, und wenn du zwanzig Jahre darum bitten solltest!« – »Es sind zwanzig Jahre«, klagte die Stimme. »Zwanzig Jahre! Seit zwanzig Jahren bin ich ruhlos gewandert.« Darauf hörte ich ein schwaches Kratzen von draußen, und der Stoß Bücher wankte. Ich wollte aufspringen, konnte aber kein Glied rühren und schrie in namenloser Angst gellend auf.
Zu meiner Verwirrung entdeckte ich, daß mein Schrei nicht nur eingebildet gewesen war, denn eilige Schritte nahten meiner Zimmertür, jemand stieß sie hastig auf, und durch die Fenster meines Bettraumes drang Lichtschein. Ich saß bebend da und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Der Eingetretene schien zu zögern und murmelte etwas vor sich hin. Endlich sagte er flüsternd, anscheinend kaum eine Antwort erwartend: »Ist jemand hier?« Ich hielt es für das Beste, meine Anwesenheit zu bekennen, denn ich kannte Heathcliffs liebenswürdigen Ton zur Genüge und fürchtete, er werde weiter suchen, falls ich mich schweigend verhalten würde. Ich wandte mich also zur Seite und öffnete den Wagenschlag. Die Wirkung, die dies hatte, werde ich in meinem Leben nicht vergessen.
Heathcliff stand in Hemd und Unterhosen nahe der Stubentür; in der Hand hielt er eine Kerze, die ihm über die Finger tropfte. Sein Gesicht war so weiß, wie die Wand hinter ihm. Das Knarren des Wagenschlags erschreckte ihn wie ein Blitzstrahl. Das Licht entfiel seiner Hand, und seine Aufregung war so außerordentlich, daß er es kaum aufzuheben vermochte.
»Es ist nur Ihr Gast, Herr!« rief ich schnell, da ich ihm die Demütigung, noch länger seine Feigheit zu zeigen, ersparen wollte. »Ich hatte das Unglück, infolge eines Albtraumes laut zu schreien. Es tut mir leid, daß ich Sie weckte.«
»Zum Henker, Mr. Lockwood! Ich wünschte, Sie wären beim –«, begann mein Wirt und setzte das Licht auf einen Stuhl, da es seinen Händen von neuem zu entfallen drohte. »Und wer führte Sie in dies Zimmer?« fuhr er fort, während er die Fäuste ballte und mit den Zähnen knirschte. »Wer war es? Ich hätte große Lust, den betreffenden noch diesen Moment aus dem Hause zu jagen!«
»Es war Ihre Magd Zillah«, antwortete ich, aus dem Wagen springend. »Mir wär's recht, wenn Sie's täten, Mr. Heathcliff; sie verdient es wirklich. Ich vermute, sie wollte sich auf meine Kosten einen neuen Beweis dafür schaffen, daß es in diesem Raume spukt. Nun, daran ist kein Zweifel: er wimmelt von Kobolden und Gespenstern. Sie haben allen Grund, das Zimmer verschlossen zu halten, ich versichere Sie. Keiner wird Ihnen für einen Schlummer in dieser Geisterhöhle Dank wissen.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Heathcliff, »und wo wollen Sie hin? Bleiben Sie nur für den Rest der Nacht darin, nun Sie mal da sind; aber um Himmelswillen, wiederholen Sie nicht das fürchterliche Geschrei, das nur zu entschuldigen wäre, wenn man versucht hätte, Ihnen den Hals abzuschneiden!«
»Hätte der kleine Satan zum Fenster hereingekonnt, sie würde mich erdrosselt haben«, entgegnete ich. »Ich werde mich der Verfolgung Ihrer gastlichen Ahnen nicht noch einmal aussetzen. War nicht der Reverend Jabes Branderham Ihnen von mütterlicher Seite her verwandt? Und das Satansmädel, Catherine Linton oder Earnshaw oder wie sie hieß? Sie muß ein Wechselbalg, eine gottlose kleine Seele gewesen sein! Sie sagte mir, sie gehe seit zwanzig Jahren um, sicherlich eine gerechte Strafe für ihre Vergehungen bei Lebzeiten.«
Kaum hatte ich diese Worte geäußert, als ich mich der Verbindung von Heathcliffs und Catherines Namen in den Aufzeichnungen erinnerte, was meinem Gedächtnis bis eben ganz entfallen gewesen war. Ich errötete über meine Unbedachtsamkeit; ohne jedoch zu zeigen, daß ich mir des beleidigenden Charakters meiner Worte bewußt geworden sei, beeilte ich mich hinzuzufügen: »Die Wahrheit, Herr, ist die: ich brachte den ersten Teil der Nacht damit zu –« hier stockte ich von neuem; ich hatte sagen wollen: in jenen alten Bänden zu blättern – dann wäre aber meine Kenntnis ihres gedruckten wie auch ihres geschriebenen Inhalts offenbar geworden. So korrigierte ich mich also und fuhr fort: »damit zu, den in das Fensterbrett eingekratzten Namen zu buchstabieren; eine langweilige Beschäftigung, sie sollte mich schläfrig machen, wie etwa zählen oder ...«
»Was fällt Ihnen ein, Herr, so zu mir zu sprechen!« donnerte Heathcliff. »Wie – wie wagen Sie es unter meinem Dach?! – Gott! Er ist verrückt, solche Reden zu führen!« Und verzweifelt griff er sich an die Stirn.
Ich wußte nicht, sollte ich ihm diese Worte übelnehmen oder sollte ich sie nicht beachten und in meinem Bericht fortfahren. Doch da er mir so tief ergriffen schien, hatte ich Mitleid und erzählte weiter. Ich versicherte, daß ich den Namen Catherine Linton nie vorher gehört hätte, daß aber das häufige Überlesen desselben ihn, nachdem ich in Schlaf gefallen war, zu einer Traumgestalt personifizierte. Während ich so sprach, sank Heathcliff langsam in die Polster des Wagenbettes zurück, so daß er schließlich meinen Blicken ganz verloren war. Doch erriet ich an seinen schnellen, unregelmäßigen Atemzügen seine tiefe Bewegung. Da ich ihn nicht wissen lassen wollte, daß ich seine Aufregung bemerkt hatte, ordnete ich meine Kleidung, sah nach der Uhr und sagte wie für mich selbst: »Noch nicht drei Uhr! Ich hätte geschworen, daß es sechs sei. Die Zeit kriecht hier; wir müssen wohl schon um acht Uhr zur Ruhe gegangen sein.«
»Stets um neun im Winter; aufgestanden wird um vier«, sagte mein Wirt, ein Stöhnen unterdrückend, und wischte sich, wie ich an der Bewegung des Armes erriet, eine Träne aus den Augen. »Mr. Lockwood«, fügte er hinzu, »Sie können in mein Zimmer gehen; unten sind Sie so frühzeitig nur im Wege, und mir hat Ihr kindischer Schrei den Schlaf ohnedies zum Teufel gejagt.«
»Und mir auch«, erwiderte ich. »Ich will bis Tagesanbruch im Hof promenieren, und dann breche ich auf. Und Sie brauchen eine Wiederholung meines lästigen Besuches nicht zu befürchten; ich bin jetzt ganz davon geheilt, mein Vergnügen in der Geselligkeit zu suchen – sei es in Stadt oder Land. Ein vernünftiger Mann sollte an sich selbst Gesellschaft genug haben.«
»Ergötzliche Gesellschaft!« murmelte Heathcliff. »Nehmen Sie das Licht und gehen Sie, wohin Sie wollen«, sagte er dann. »Ich komme gleich nach. Aber gehen Sie nicht in den Hof, die Hunde sind nicht angekettet; und auf der Diele hält Juno Wache, und – nein! Sie können nur auf den Treppen und Gängen herumsteigen. Doch fort mit Ihnen. In zwei Minuten bin auch ich bei Ihnen.«
Ich gehorchte, soweit es das Verlassen des Zimmers anbetraf. Draußen jedoch stand ich still, da ich nicht wußte, wohin die engen Gänge führten; so wurde ich unbeabsichtigt Zeuge des seltsamen Benehmens meines Gastgebers, das mich fast an seinem Verstände zweifeln ließ. Er öffnete mit Gewalt das Fenster und brach in leidenschaftliches Weinen aus. »Komm herein«, schluchzte er, »komm herein! Cathy, komm, komm! O mein Herz, mein Lieb, nur einmal komm noch! Höre mich diesmal, höre mich endlich, Catherine!«
Das