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Das einfache Leben. Ernst WiechertЧитать онлайн книгу.

Das einfache Leben - Ernst Wiechert


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an den Gittern der Vorgärten, und ihre eintönigen Verse fielen wie stumpfe Messer in die Menge. Geld klirrte, und die meisten Hände fuhren schnell zurück, als hätten sie sich losgekauft von dem steinernen Antlitz des Krieges, das immer noch über die Dächer hinunterstarrte. Die breiten Hüte der Heilsarmee tauchten ab und zu aus lichtüberfluteten Eingängen auf, und die Gesichter darunter blickten still und wie entrückt, als hätten sie schon auf der Schwelle Hohn oder Mitleid abgestreift, die sie dort innen empfangen hatten.

      Einen Augenblick lang lächelte Thomas, als ihm der Gedanke kam, was sie für Gesichter machen würden, wenn er zu Hause als Offizier dieser Heilstruppe erscheinen würde. Thomas, der Leutnant Gottes. Gott war fortgegangen, aber die Propheten kamen. Aus allen Kellerhöhlen stiegen sie empor, auf den Tribünen hoben sie die nackten, verzehrten Arme, in den Parlamenten beschworen sie das Reich der Liebe, aus den Sternen rissen sie Weisheit und Schicksal: aber der Engel war fort, der einzige, der die Lose trug und wußte.

      Ein Polizist mit weißen Handschuhen sperrte die Kreuzung. Jemand rief Thomas an, und er trat unlustig an den haltenden Wagen. Ein Kamerad von seinem letzten Schiff, und er rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Aber Thomas schüttelte den Kopf. Nein, eine Bar sei nichts für ihn, er wolle noch in der frischen Luft bleiben. Was er denn treibe? Oh … nichts … er warte. Der andere lächelte: »Solltest zu mir auf die Bank kommen, Thomas«, sagte er. »Geld wird dort verdient, sage ich dir, und das Ganze ist so wie ein Nachtgefecht. Du weißt nie, wie du herauskommst, aber wenn du herauskommst, hat es gelohnt. Soll ich dir einen Tip geben, Thomas? Macht mehr aus als deine Pension für ein Jahr!«

      Nein, auch dafür dankte Thomas. Die Straße wurde frei, und der Wagen fuhr langsam an. »Mach's gut, Thomas! Bis zum nächsten Orlog …«

      Eine Weile blickte er dem Wagen nach, dann bog er die nächste Straße zur Stadtbahn ein. Ihn verlangte plötzlich, den Strom zu sehen, dunkles Wasser, in dem die Masten sich spiegelten und über dem die Sterne standen. Nein, der Erfolg konnte nicht das Letzte sein. Auch Spieler hatten Erfolg, aber ihr Leben ging nicht in die Bücher ein, aus denen Kinder lernen, wie man leben soll. Ein guter Offizier war jener gewesen und ein guter Kamerad, aber wenn man die Uniform auszog, mußte man wohl mehr sein als dies. Das Leben verlangte mehr, als ein Kriegsschiff verlangt. Ungewißheit überfiel ihn wieder, und im Augenblick dachte er, daß es gut sein müßte, Adressen zu schreiben oder Pakete auszutragen, irgend etwas, das das Blut in den Fingern bewegen würde. Es gab keine Feierjahre für junge Hände.

      Er blieb an einem Blumenladen stehen und starrte auf die Gläser mit Treibhausflieder. Wenn ich geschossen hätte, grübelte er, so würden sie mich erschlagen haben, und alles würde gut sein … eine Sekunde versäumt, nein, eine halbe Sekunde … die Entscheidung verpaßt, das ist es, weshalb der Engel nicht kommt …

      In der Stadtbahn saß ein alter Mann ihm gegenüber, der auf ein Blatt Papier starrte, das mit Kreisen und Zeichen bedeckt war. Sein Haar fiel bis zum Rockkragen, und seine Füße steckten in wunderlichen, vielfach geflickten Reformschuhen. Wie reich und geduldig ist diese Zeit, dachte Thomas. Sollte sie nicht auch für mich einen Platz und ein Ziel haben? Man muß nur warten, bis die Magnetnadel zu beben beginnt …

      Der Mann sah seufzend auf und blickte Thomas an. Er hatte gute Augen, von einem etwas wässerigen Braun, leise erstaunt und viel geprüft, und Thomas dachte, daß eine Kuh so vor sich hinsehen könnte, wenn sie außer der Reihe gemolken würde. Doch mißfiel ihm der Vergleich sofort, und er tadelte sich, daß er so über Menschen urteile.

      Doch da hob der Mann den Zeigefinger der rechten Hand und sagte flüsternd: »Steinbock, nicht wahr? Dreiundzwanzigsten Dezember bis dreiundzwanzigsten Januar, ja?«

      Aber Thomas vergaß seine guten Vorsätze über dem Formlosen und Vertraulichen der Ansprache. »Nein«, erwiderte er schroff und wechselte den Platz.

      Der Sternkundige stieg an der nächsten Haltestelle aus, und als er die Türen öffnete, beugte er sich ohne Kränkung zu Thomas und flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: »Die Knie sind bedenklich beim Steinbock … sehr gefährlich … immer schön auf die Knie achten, mein Herr!« Er lächelte freundlich, hob noch einmal mahnend den Zeigefinger und verschwand.

      Die Straße senkte sich leicht zum Strom, und als Thomas die Stufen zum Bollwerk hinunterschritt, dachte er an seine Knie und lächelte. Dann ging er langsam am Wasser entlang.

      Die Flut zog dunkel und träge dahin, mit zitternden Sternbildern, die auf der gleichen Stelle verharrten. Kähne lagen an der Mauer vertäut, die Deckplanken glänzten, und die Bordlaternen leuchteten über Tauwerk und Holz. Mitunter bellten die Wachhunde, zuerst einzeln und dann den ganzen Strom entlang. Dann war nur wieder das Wasser zu hören und der leichte Wind, der durch das Geäst der Birken zog.

      »Wasser müßte es doch sein«, sagte Thomas, »nur stiller als das Meer … ich möchte keine Brandung mehr hören.«

      Auf einem der Uferpfähle saß er dann lange, rauchte und hielt dann die Hände müßig zwischen den Knien gefaltet. Die Luft war warm, und es roch nach Erlen und Schilf. In der Ferne glitten die glühenden Bänder der Züge durch die Nacht, fast ohne Lärm, wie schöne Schnüre. Der Himmel war hell, wie bestickte Seide, und einmal meinte er ganz weit Wildgänse ziehen zu hören. Er vergaß nun alles, die letzten Stunden und die mühsamen Jahre. Wie ein Bauer auf seinem Grenzstein saß er da und hörte zu, wie die Erde sich regte. Dies war ihnen allen doch geblieben, wieviel der Brand auch verzehrt haben mochte: die Füße still auf der kühlen Erde zu halten und zu sehen, wie die Sterne kreisten. Auch Joachim sollte das lernen, sobald wie möglich, ehe sie ihn verdarben mit ihrer fraglichen Wissenschaft.

      Erst als ihn zu frieren begann, stand er auf. Die Laternen brannten immer noch, und ein dünner Nebel hing müde über dem Wasser. Die nahe Stadt sah aus, als sei sie nur zu Gast bei diesem Strom.

      Niemand sprach ihn mehr an auf der Heimfahrt, und dann ging er auf Umwegen nach Hause, damit die Gäste schon fort wären, wenn er käme. Doch fand er alle Fenster noch hell und kehrte noch einmal um. Vom nahen Kirchturm schlug es Mitternacht, und er hörte zu, wie der letzte Klang in immer dünner werdenden Wellen verging. Dann fiel ihm etwas ein, und er ging schnell die wenigen Straßen zur Kirche hin. Der Turm stand dunkel in der hellen Nacht, aber im Predigerhaus, hinter dem großen Garten, waren zwei Fenster noch erleuchtet.

      Thomas stieg über den niedrigen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fenster lagen zu ebener Erde, und als der Kies unter seinen Schuhen knirschte, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dunkel gekleidet, und Thomas meinte noch niemals einen so großen, schweren Menschen gesehen zu haben. Er war noch nicht in der Kirche gewesen.

      »Es ist spät, Herr Pfarrer«, sagte er, »aber ich würde Sie gern noch gesprochen haben.«

      Der Geistliche beugte sich schweigend vor, um das beleuchtete Gesicht zu erkennen. Dann trat er wortlos zurück, und Thomas hörte ihn die kurze Treppe herunterkommen, bis er die Haustür aufschloß. »Treten Sie leise auf«, sagte er, »sie schlafen schon alle.«

      Der große Raum war nur mit Büchern gefüllt. Ein bäuerlicher Christus aus grauem Holz hing lebensgroß zwischen den Fenstern. Thomas setzte sich nicht ohne Verwirrung, weil das Ausmaß der Figur ihn erschreckte. Doch ließ der Pfarrer sich nichts merken und sah ihn nur ruhig an. »Es kommen manche um diese Zeit«, sagte er, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß dann wenigstens, daß es ernst ist.«

      Nun erst sah Thomas ihn an. Sein Vater noch mochte hinter dem Pflug hergegangen sein, aber es war wohl ein grüblerischer Gang gewesen, und in diesem Sohn war es nun ausgebrochen. Stirn und Mund waren zersorgt und zerquält, aber über dem glatten grauen Haar mochte doch zu Zeiten derselbe Schein stehen wie über dem Holzbild an der Wand. Das Gesicht war zugeschlossen, aber die Augen sahen ihn nicht ohne Freundlichkeit an, alte und vielwissende Augen, und Thomas fühlte sich jung und töricht unter ihrem Blick.

      Er seufzte, bevor er begann. »Ich bin kein Kirchengänger, Herr Pfarrer«, sagte er entschuldigend.

      Der andere erhob nur die Hand. »Wir wollen von den wichtigen Dingen sprechen«, unterbrach er.

      »Auch die Bibel habe ich lange nicht gelesen«,


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