Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
entstand ein kurzes Stillschweigen. Denise stand regungslos da, und niemand kümmerte sich um sie. Nach einer Weile faßte sie sich ein Herz und fragte:
»Glauben Sie, daß Frau Aurélie bald zurückkommt?«
Nun rief ihr die Zweite, eine magere, häßliche Frau, die sie bisher nicht bemerkt hatte, eine Witwe mit vorspringendem Kinn und strähnigen Haaren, von einem Schrank aus, wo sie die Preisschilder nachsah, zu:
»Warten Sie doch, wenn Sie durchaus mit Frau Aurélie persönlich sprechen müssen!«
Denise wartete also. Es standen wohl einige Sessel für die Kunden herum; da man sie aber nicht aufforderte, Platz zu nehmen, wagte sie nicht, sich zu setzen. Die Verkäuferinnen hatten offenbar eine neue Kollegin in ihr gewittert und musterten sie wie Leute, die am Mittagstisch sitzen und nicht zusammenrücken wollen, um für hungrig Hinzukommende Platz zu machen. Denise geriet immer mehr in Verlegenheit, sie ging mit kleinen Schritten auf und ab und trat endlich an ein Fenster, um sich etwas Haltung zu geben. Sie sah gerade auf den »Vieil Elbeuf«. Mit dem abbröckelnden Verputz der Fassade und den blinden Schaufenstern erschien er ihr so häßlich, so trübselig im Vergleich mit dem Luxus und dem Leben, die sie hier um sich fühlte, daß etwas wie Gewissensbisse ihr das Herz vollends zusammenschnürte.
»Haben Sie ihre Schuhe gesehen?« flüsterte hinter ihr Ciaire Marguerite zu.
»Na, und erst das Kleid!« tuschelte die andere.
Denise, die noch immer auf die Straße hinunterschaute, hatte das Gefühl, als ob sie von den haßerfüllten Blicken der Verkäuferinnen verschlungen würde. Allein sie verspürte deswegen keinen Zorn. Sie fand die Mädchen nicht hübsch, weder die lange Ciaire mit der roten Mähne noch Marguerite mit ihrem platten, fast knochenlosen Gesicht. Ciaire Prunaire, die Tochter eines Holzschuhmachers aus Vivet, war, nachdem sie durch die Hände aller Lakaien auf Schloß Mareuil gegangen war, wo sie als Näherin gearbeitet hatte, erst in ein Geschäft in Langres eingetreten und später nach Paris gekommen, wo sie an den Männern Rache nahm für alle Fußtritte, die sie zu Hause von Vater Prunaire erhalten hatte. Marguerite Vadon hinwiederum, in Grenoble geboren, wo ihre Familie ein kleines Leinengeschäft betrieb, war nach Paris geschickt worden, um die Folgen eines Fehltritts zu verbergen. Sie führte sich jetzt sehr brav auf und sollte bald in ihre Heimat zurückkehren und einen Vetter heiraten, der auf sie wartete.
»Na«, brummte Ciaire vor sich hin, »die wird es bei uns auch nicht weit bringen.«
Doch jetzt schwiegen sie; eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren trat ein. Es war Frau Aurélie, eine etwas üppige Dame, fest eingeschnürt in ihr schwarzes Seidenkleid, dessen Oberteil sich wie ein leuchtender Panzer über den massiven Rundungen der Schultern und des Busens spannte. Unter dichten schwarzen Brauen saßen große, starre Augen, der Mund war streng, die Wangen breit und schon ein wenig hängend. Die Würde einer Abteilungsleiterin gab ihrem Gesicht die Geschwollenheit einer Cäsarenmaske.
»Fräulein Marguerite«, sagte sie mit gereizter Stimme, »warum haben Sie gestern das Modell des auf Taille gearbeiteten Mantels nicht ins Atelier zurückgebracht?«
»Es ist noch einiges zu ändern«, erwiderte die Verkäuferin,
»Frau Fréderic hat ihn hierbehalten.«
Die Zweite nahm den Mantel aus einem Schrank, und die Auseinandersetzung ging weiter. Alle zitterten vor Frau Aurélie, wenn sie glaubte, ihre Autorität hervorkehren zu müssen. In ihrer Überheblichkeit war sie nur gegen jene Angestellten freundlich, die ihr schmeichelten und in Bewunderung vor ihr erstarben. Sie hatte schwer kämpfen müssen, bis sie es zu ihrer jetzigen Stellung im »Paradies der Damen« gebracht hatte, wo sie jährlich zwölftausend Franken verdiente, und sie zeigte sich nun allen Anfängerinnen gegenüber genauso hart, wie das Leben ihr selbst mitgespielt hatte.
»Genug!« sagte sie endlich trocken. »Sie sind nicht vernünftiger als alle anderen, Frau Frédéric ... Die Änderungen müssen sofort gemacht werden!«
Während dieser Auseinandersetzung hatte Denise sich vom Fenster abgewandt. Sie merkte wohl, daß dies Frau Aurélie war; allein erschreckt durch ihre schroffe Stimme, blieb sie stehen und wartete. Die Mädchen, die sich freuten, daß sie die Direktrice und die Zweite in einen Streit miteinander verwickelt sahen, waren mit gleichgültiger Miene zur ihrer Arbeit zurückgekehrt. Es vergingen einige Minuten, und keine von ihnen war barmherzig genug, das junge Mädchen aus seiner Verlegenheit zu reißen. Endlich war es Frau Aurélie selbst, die Denise unbeweglich dastehen sah und fragte, was sie wünsche.
»Ich suche Frau Aurélie.«
»Die bin ich.«
Denises Lippen waren trocken, ihre Hände zitterten. Sie stotterte ihre Bitte hervor und mußte noch einmal von vorn anfangen, um sich verständlich zu machen. Frau Aurélie schaute sie mit ihren großen, starren Augen an, ohne daß sich auf ihrem majestätischen Antlitz auch nur eine Spur von Milde gezeigt hätte.
»Wie alt sind Sie?«
»Zwanzig Jahre.«
»Wie, zwanzig Jahre? Sie sehen aus, als wären Sie kaum sechzehn!«
Die Verkäuferinnen hoben die Köpfe, um diesem Verhör zu folgen. Denise beeilte sich hinzuzufügen:
»Aber ich bin sehr kräftig.«
Frau Aurélie zuckte die breiten Schultern, dann erklärte sie kühl:
»Mein Gott, ich werde Sie vormerken. Wir schreiben jede auf, die sich vorstellt. Fräulein Marguerite, geben Sie mir die Liste.« Man fand sie nicht sogleich; sie müsse wohl noch beim Inspektor Jouve sein, hieß es. Während Marguerite fortging, die Liste zu holen, erschien Mouret und hinter ihm Bourdoncle. Sie hatten auch im Zwischenstock ihren Rundgang gemacht und schlössen nun mit der Konfektionsabteilung ab. Frau Aurélie trat mit ihnen beiseite und erwähnte eine Mantelbestellung, die sie bei einem Pariser Großunternehmer aufzugeben gedachte. Gewöhnlich kaufte sie auf eigene Verantwortung ein; bei bedeutenderen Posten dagegen zog sie es vor, sich mit der Geschäftsleitung zu besprechen. Bourdoncle benützte die Gelegenheit, um ihr vom neuesten Schnitzer ihres Sohnes Albert zu berichten. Sie schien ganz verzweifelt: dieses Kind werde noch ihr Tod sein. Mouret hatte mittlerweile die Anwesenheit Denises bemerkt und beugte sich zu Frau Aurélie, um sie zu fragen, was das Mädchen hier wolle. Als die Direktrice erwiderte, sie habe sich als Verkäuferin beworben, war Bourdoncle in seiner gewohnten Geringschätzung für alles Weibliche höchst erstaunt über diese Anmaßung.
»Das kann doch nur ein Scherz sein!« flüsterte er. »Sie ist ja viel zu häßlich.«
»Schön ist sie nicht, das stimmt«, sagte Mouret. Er wagte nicht, sie in Schutz zu nehmen, obgleich er durch ihr Staunen vor seiner Dekoration unten für sie eingenommen war.
Man brachte jetzt die Liste, und Frau Aurélie kam zu Denise zurück. Diese machte in der Tat keinen günstigen Eindruck. Sie wirkte zwar sehr sauber in ihrem dünnen schwarzen Wollkleid, und man nahm an der Ärmlichkeit ihres Aufzugs auch keinen Anstoß, denn das übliche Seidenkleid der Verkäuferinnen wurde von der Firma gestellt; allein sie sah zu zart aus, und ihr Gesicht war gar zu traurig. Die Verkäuferinnen mußten nicht gerade hübsch sein, aber es war doch wünschenswert, daß sie eine angenehme Figur machten. Unter den Blicken der Damen und Herren, die sie musterten und mit den Augen abschätzten wie eine Stute, um welche die Bauern auf dem Jahrmarkt feilschen, verlor Denise vollends die Fassung.
»Wie heißen Sie?« fragte die Direktrice.
»Denise Baudu.«
»Ihr Alter?«
»Zwanzig Jahre und vier Monate.«
Sie wagte es, die Augen zu Mouret zu erheben, den sie in allen Abteilungen mit der gleichen Autorität hatte auftreten sehen und dessen Anwesenheit sie in Verlegenheit setzte; unbeholfen fügte sie hinzu:
»Ich bin recht kräftig, wenn ich auch nicht danach aussehe.«
Alles lächelte.
»In welchem Haus haben Sie in Paris gearbeitet?« fragte die Direktrice.
»Ich