John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry MackayЧитать онлайн книгу.
und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, so oft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, dass hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch.
Was ist dem Besitzenden das Volk – das Volk, welches „nicht zu gut behandelt werden darf“, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben, wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die besorgt werden muss, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: „Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht – –.
Ihre Söhne – gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung – in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig – von der Arbeit eines ewig währenden Tages.
Ihre Töchter – gut genug als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!
Aber hier – hier allein! – zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.
Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich unser ganzes geschlechtliches Leben – das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte – ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches einer noch im Schlummer liegenden Generation.
Auban wurde gezwungen aufzusehen.
Aus dem Restaurant des London Pavillion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal-verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzu deutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in full dress: Aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus den schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die Einen einige der Halbweltlerinnen, während die Anderen nach Hansoms schrien, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.
Piccadilly Circus
Auban schaute den Platz. Dort vor ihm – Piccadilly hinunter – dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst – das ganze sättigte und raffinierte Leben der „großen Welt“... das Trugleben des Scheins...
Der Blitz der kommenden Revolution muss hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein...
Als Auban die Straße schritt, fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedes Mal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: Und es kam Auban die Lust an, zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangbogen von Spiers und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten schritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner. – Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.
Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke.
– Das ist alles in drei Stunden. – Das ist nicht genug für euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.
Und der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten den Platz ging.
Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrants von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho... Um dieselbe Stunde – die neunte war nicht mehr fern – kam von Osten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unsicheren Schnelligkeit des Ganges, welche verrät, dass man sich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne schnell ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ein Mann von etwa vierzig Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die sich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Bürgers unterscheidet. Als er – überzeugt, dass er bei weiterem Forteilen in der eingeschlagenen Richtung schwerlich bald seine Ungeduld befriedigen würde – still stand und vor einem der zahllosen Public-Häuser einen der dort herumstehenden Burschen nach seinem Wege fragte, zeigte dessen vergebliches Bemühen, die erbetene Auskunft möglichst klar und verständlich zu machen, dass der Frager ein Ausländer sein musste.
Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens, und zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoirs an den geöffneten und füllten Läden vorbei, drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer tönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitschigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.
Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander gebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.
Da, als er sich umsah, erblickte er auf der anderen Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffter Weise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann – als er schon die Straße halb schritten hatte – trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier? – Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hin.
Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public-Hauses umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: – „Have a drink!“ Er stand da, etwas nach vorn gebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte und seine tiefliegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten