Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:. Joseph ConradЧитать онлайн книгу.
und plötzlich ging der bloßfüßige Serang lautlos davon, um seitlich hinabsehen zu können.
Schmal in den Schultern, in einem Anzug aus verschossenem blauem Baumwollstoff, einen alten grauen Filzhut tief in die Augen gezogen, eine tiefe Grube im dunklen Nacken und von schmächtigem Gliederbau, erschien der Mann, von rückwärts gesehen, kaum größer als ein vierzehnjähriger Junge. Ganz kindlich war auch die Neugierde, mit der er zusah, wie die massigen, gelblichen Gebilde vom Grund her an die Oberfläche des blauen Wassers emporzusteigen schienen, wie Wolkenballen, die langsam einen klaren Himmel herauftreiben. Er war über den Anblick nicht im Mindesten überrascht. Es war kein Zweifel, sondern die Gewissheit, dass der Kiel der „SOFALA“ den Grund berühren musste, was ihn bewogen hatte, über die Reling hinunterzusehen.
Seine forschenden Augen, schräggestellt in einem Gesicht von chinesischem Typus, einem kleinen, alten, unbeweglichen Gesicht, wie aus alter, brauner Eiche geschnitzt, diese Augen hatten ihn lange zuvor davon unterrichtet, dass die Sandbank nicht richtig angesteuert worden war. Als er zugleich mit der übrigen Besatzung nach dem Verkauf der „FAIR MAID“ abgemustert hatte, trieb er sich in seinem verschossenen blauen Anzug und dem breitkrempigen grauen Hut vor den Toren des Hafenamtes herum; als er eines Tages Kapitän Whalley auf der Suche nach einer Besatzung für die „SOFALA“ daherkommen sah, hatte er sich ihm auf bloßen Füßen mit einem stummen Bittblick in den Weg gestellt. Das Auge seines alten Herrn war in Gnade auf ihn gefallen – es musste ein günstiger Tag gewesen sein – und kaum eine halbe Stunde später hatten die weißen Männer in dem „Ofiss“ ihn als Serang des ‚Feuerschiffes’ „SOFALA“ eingetragen. Seither hatte er wiederholt diese Mündung, diese Küste, von dieser Brücke und diesseits der Bank aus gesehen. Die Erinnerung an den Gesichtseindruck zeichnete sich durch seine Augen auf seinem unverdorbenen Hirn ab, wie auf einer lichtempfindlichen Platte durch eine Linse. Sein Wissen war unbedingt und genau; trotzdem hätte er zweifellos das Zögern der Ungewissheit zur Schau getragen, hätte man ihn um seine Meinung gefragt, und noch dazu in der kerzengeraden, aufregenden Art der weißen Männer. Er war seiner Tatsachen gewiss – aber diese Gewissheit wog leicht im Vergleich zu dem Zweifel, welche Antwort wohl angenehm sein würde. Vor fünfzig Jahren, in einem Dschungeldorf, und bevor er selbst noch einen Tag alt gewesen, hatte sein Vater, der starb, ohne ein weißes Gesicht gesehen zu haben, von einem in der Sternenkunde bewanderten Mann sein Horoskop stellen lassen; denn aus der Stellung der Sterne kann das letzte Wort über ein Menschenschicksal gelesen werden. Die Vorhersage hatte gelautet, er werde durch die Gunst weißer Männer auf See Glück haben. Er hatte Schiffsdecks gewaschen, hatte Steuerruder bedient, Vorräte verwaltet, hatte es zuletzt bis zum Serang gebracht; und sein sanftes Gemüt war ebenso unfähig geblieben, die einfachsten Beweggründe derer zu erfassen, denen er diente, wie diese selbst unfähig waren, unter der Erdkruste das Geheimnis des Erdinnern zu ergründen, das vielleicht aus Feuer oder Stein besteht. Er hatte aber nicht den geringsten Zweifel daran, dass die““SOFALA“ vom richtigen Kurs abgefallen war, als sie diesmal die Bank von Batu-Beru kreuzte.
Es war nur ein kleiner Irrtum. Das Schiff konnte kaum um die doppelte eigene Länge zu weit nördlich sein; und ein Weißer, der nach einem Grund dafür suchte – denn es war unmöglich, bei Kapitän Whalley krasse Unwissenheit anzunehmen, Mangel an Übung oder Nachlässigkeit – wäre versucht gewesen, seinen eigenen Sinnen zu misstrauen. Ein ähnliches Gefühl war es auch, das Massy, mit zu einem ängstlichen Grinsen gebleckten Zähnen, reglos erhielt. Nicht so der Serang. Er war von jedem verstandesmäßigen Misstrauen gegen seine Sinne frei. Wenn es seinem Kapitän gefiel, den Schlamm aufzurühren, so war das recht. Er hatte in seinem Leben weiße Männer öfter als einmal einer unbegreiflichen Anwandlung nachgeben sehen. Er war nur ehrlich neugierig, was wohl daraus werden würde. Schließlich trat er augenscheinlich befriedigt von der Reling zurück.
Er hatte keinen Laut von sich gegeben: Kapitän Whalley aber schien die Bewegungen seines Serangs beobachtet zu haben. Mit starr gerecktem Kopf und kaum die Lippen bewegend fragte er:
„Macht sie noch Fahrt, Serang?“
„Noch ein wenig Fahrt, Tuan“, antwortete der Malaie und fügte dann beiläufig hinzu: „Sie ist drüber weg.“
Das Lot bestätigte seine Worte; die Wassertiefe nahm bei jedem Wurf zu, und der Geist der Aufregung verließ plötzlich den Laskar, der in seinem Segeltuchgürtel über die Seite der „SOFALA“ hinaushing. Kapitän Whalley befahl, das Lot einzuholen, ließ ohne große Eile die Maschinen voraussetzen, wandte seine Augen von der Küste ab und wies den Serang an, einen Kurs nach der Mitte der Mündung zu steuern.
Massy schlug sich geräuschvoll die flache Hand auf den Schenkel.
„Sie haben die Bank gestreift. Sehen Sie nur achtern, ob Sie das nicht taten! Sehen Sie auf die Spur, die wir hinterlassen haben! Sie ist deutlich zu sehen. Bei meiner Seel! ich hatte es mir gedacht! Warum taten Sie das? Was zum Teufel hat Sie dazu gebracht? Ich glaube, Sie wollen mich erschrecken.“
Er sprach langsam, wie tastend, und hielt die vorquellenden schwarzen Augen fest auf seinen Kapitän gerichtet. In seinem beginnenden Zornausbruch fehlte auch eine leicht wehklagende Note nicht, denn im Grunde war es das klare Gefühl, unverdientes Unrecht erlitten zu haben, was ihn diesen Mann hassen ließ. Diesen Mann, der für fünfhundert lumpige Pfund ein Sechstel des Gewinnes für die Vertragsdauer von drei Jahren beanspruchte. Sooft dieser Groll die Ehrfurcht besiegte, die er vor Kapitän Whalleys Persönlichkeit empfand, pflegte er vor Wut geradezu zu wimmern.
„Sie wissen gar nicht mehr, was Sie erfinden müssen, um mir die Seele aus dem Leibe zu ärgern. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann Ihrer Art sich herbeilassen würde...“
Er unterbrach sich halb hoffnungsvoll, halb schüchtern, sooft Kapitän Whalley in seinem Deckstuhl die geringste Bewegung machte, als hätte er erwartet, durch ein sanftes Wort versöhnt oder aber angefahren und von der Brücke verjagt zu werden.
„Ich bin verblüfft“, fuhr er wieder fort und bleckte dabei immer noch wachsam und ohne Lächeln seine großen Zähne. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich glaube, Sie versuchen es, mich zu erschrecken. Um ein Haar hätten Sie das Schiff für mindestens zwölf Stunden auf der Bank festgesetzt und dabei überdies noch die Maschinen verschlammt. Kein Schiff kann es sich heutzutage mehr leisten, auf einer Fahrt zwölf Stunden zu verlieren – wie Sie sehr gut wissen mussten und ja auch ganz bestimmt sehr gut wissen, nur...“
Sein halblauter Redefluss, die seitliche Drehung seines Halses, die dunklen Blicke aus den Augenwinkeln ließen Kapitän Whalley unbewegt. Er sah unter finster gerunzelten Brauen vor sich auf das Deck. Massy wartete eine kleine Weile und begann dann leise zu drohen.
„Sie glauben wohl, mir mit dem Abkommen Hand und Fuß gebunden zu haben. Sie glauben mich in jeder Art, wie es Ihnen gefällt, peinigen zu können. Oh! Aber denken Sie nur daran, dass es noch volle sechs Wochen läuft. Zeit genug für mich, Sie zu entlassen, bevor die drei Jahre um sind. Sie werden schon noch etwas tun, das mir ein Recht gibt, Sie zu entlassen und zwölf Monate auf Ihr Geld warten zu lassen, bevor Sie mir die Fünfhundert abverlangen und mir so den letzten Pfennig für die neuen Kessel nehmen können. Sie brüten über diesem Gedanken, nicht wahr? Ich habe das Gefühl, dass Sie hier sitzen und brüten. Es ist, als hätte ich meine Seele für fünfhundert Pfund verkauft, um schließlich auf ewig verdammt zu sein...“
Er unterbrach sich abermals, ohne ein Zeichen der Verzweiflung, und fuhr dann gleichmäßig fort:
„... Mit den abgenützten Kesseln und der Inspektion, die jeden Augenblick kommen kann, Kapitän Whalley... Kapitän Whalley, sagen Sie doch, was machen Sie mit Ihrem Geld? Sie müssen irgendwo einen ganzen Haufen Geld haben – ein Mann wie Sie muss das haben. Es liegt auf der Hand. Ich bin kein Narr, müssen Sie wissen, Kapitän Whalley – Partner.“
Nochmals brach er ab, als wäre er nun endgültig fertig. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und warf einen Blick auf den Serang zurück, der mit ruhigem Flüstern und leichten Handbewegungen den Kurs des Schiffes angab. Die kreisende Schraube sandte kleine Wellen mit dunklen Kämmen gegen die öden, flachen Ufer aus schwarzem Schlamm. Die „SOFALA“ war in den Fluss eingefahren; die Spur, die sie in der Sandbank eingeritzt hatte, lag nun eine Meile weit zurück,