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Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.

Lourdes - Emile Zola


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kenne, das für einen Priester so entsetzliche Elend, nicht mehr zu glauben. Bei dem darauffolgenden Gespräche hatte er ihr ganz gegen seinen Willen alles gesagt. Sie war ihm bis auf den Grund des Gewissens gedrungen mit dem feinen Erkennungsvermögen der leidenden Freundin. Sie geriet darüber seinetwegen in furchtbare Unruhe und beklagte ihn wegen seiner tödlichen seelischen Krankheit noch mehr als sich selbst. Als er dann, tief ergriffen, nichts darauf zu antworten wußte und durch sein Schweigen die Wahrheit eingestand, hatte sie wieder angefangen, von Lourdes zu sprechen, und hinzugefügt, es sei ihr inniger Wunsch, daß auch er sich der Heiligen Jungfrau anvertrauen und sie anflehen sollte, ihm den Glauben wiederzugeben. Von diesem Abend an hatte sie nicht mehr aufgehört, davon zu reden. Aber die Geldfrage hielt sie in Paris fest. Sie hatte es nicht einmal gewagt, mit ihrer Schwester darüber zu sprechen. Zwei Monate vergingen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer und erschöpfte sich in sehnsüchtigen Träumen, die Augen dem himmlischen Glänze der Wundergrotte zugewendet.

      Pierre hatte damals schlimme Tage verbracht. Zuerst hatte er es Marie rundweg abgeschlagen, sie zu begleiten. Dann wurde sein Wille durch den Gedanken erschüttert, daß er, wenn er sich zur Reise entschlösse, die Untersuchungen über Bernadette wieder aufnehmen und fördern könne. Und endlich hatte er gefühlt, wie eine wonnige Empfindung ihn durchdrang, eine uneingestandene Hoffnung, daß Marie vielleicht recht hätte und die Heilige Jungfrau sich seiner in Gnaden annehmen und ihm den Glauben wiedergeben würde, den Glauben des Kindes, das liebt und nicht prüft. Oh, wenn er doch von ganzer Seele glauben, wenn er doch in dem Glauben versinken könnte! Es gab kein anderes Glück. Er trachtete nach dem Glauben mit der ganzen Freude seiner Jugend, mit der ganzen Liebe, die er für seine Mutter empfunden hatte, mit all dem brennenden Verlangen, das ihn erfüllte, der Qual des Erkennens und Wissens zu entgehen und für immer im Schoße der göttlichen Unwissenheit einzuschlummern. Es war köstlich, nichts mehr zu sein als ein willenloses Ding in den Händen Gottes.

      Acht Tage später war die Reise nach Lourdes beschlossen. Pierre hatte eine letzte Besprechung der Ärzte gefordert, um zu erfahren, ob Marie den Anstrengungen der Reise wirklich gewachsen sei. Zwei der Ärzte, die die Kranke früher behandelt hatten, und von denen der eine an ein Zerreißen der großen Sehnen glaubte, der andere aber es für eine Lähmung des Rückenmarkes ansah, hatten sich schließlich dahin geeinigt, daß es Lähmung des Rückenmarkes sei in Verbindung mit Verletzungen, die sich vielleicht an den großen Sehnen befänden. Der Fall schien ihnen so klar, daß sie kein Bedenken trügen, jeder für sich einen Krankenschein auszustellen, der bei beiden beinahe gleich lautete. Sie hielten die Reise für möglich, wenn sie auch der Kranken heftige Schmerzen verursachen würde. Das hatte Pierre bestimmt, denn er hatte gefunden, daß die beiden Herren sehr klug und eifrig bestrebt gewesen waren, die Wahrheit zu ergründen. Eine unklare Erinnerung blieb ihm an den dritten Arzt, de Beauclair mit Namen, einen jungen Mann mit regem Verstande, noch wenig bekannt und, wie man sagte, etwas wunderlich. Nachdem er Marie lange betrachtet, hatte er sich genau nach ihren Vorfahren erkundigt und mit lebhaftem Interesse dem zugehört, was man ihm von Herrn von Guersaint erzählte, dem Architekten und verunglückten Erfinder mit dem schwachen Charakter und der üppig wuchernden Phantasie; dann hatte er den tatsächlichen Befund der Krankheit geprüft und dabei in diskreter Weise festgestellt, daß der Schmerz sich im linken Eierstock lokalisiert hatte, und daß dieser Schmerz, wenn man dort drückte, wie eine dicke Masse, die sie zu ersticken drohte, bis in ihre Kehle hinaufstieg. Auf die Lähmung der Beine schien er gar keinen Wert zu legen. Dann hatte er auf eine Frage sich sogar dahin geäußert, daß man sie nach Lourdes bringen müßte, da sie dort sicherlich geheilt werden würde, wenn sie davon überzeugt sei. Lächelnd fügte er hinzu, daß der Glaube genüge, daß zwei von seinen Patienten, sehr fromme Damen, von ihm im vorigen Jahre hingeschickt und strahlend von Gesundheit wieder zurückgekommen wären. Er gab sogar an, wie sich das Wunder vollziehen würde: beim Erwachen würde eine furchtbare Aufregung die Kranke ergreifen, während das Übel, jener quälende Druck, der sie zu ersticken drohte, zum letztenmal in ihr aufsteigen und verschwinden würde, als ob er durch den Mund entschlüpft wäre. Er schlug es rundweg ab, einen Krankheitsschein auszustellen. Seine beiden Kollegen behandelten ihn sehr kühl wie einen Kurpfuscher. Pierre hatte, wenn auch nur unklar, einige Stellen aus dem von Beauclair abgegebenen Gutachten behalten: eine Verrenkung des Organs mit leichten Rissen in den Sehnen infolge des Sturzes vom Pferde, dann eine langsame Wiederherstellung des natürlichen anatomischen Zustandes. Die Kranke habe jedoch stets unter dem nervösen Drucke der ersten Furcht gelebt. Ihre ganze Aufmerksamkeit sei auf die verletzte Stelle gerichtet; sie besitze gar nicht mehr die Fähigkeit, neue Vorstellungen zu bilden, es sei denn, daß dies durch die plötzliche Einwirkung einer heftigen Erregung geschähe. Allein der Gedanke, daß Mariens Leiden nur ein eingebildetes sein sollte, daß die entsetzlichen Schmerzen, die sie quälten, von einer längst geheilten Verletzung herrühren sollten, war Pierre so unglaublich vorgekommen, daß er sich dabei gar nicht weiter aufgehalten hatte. Er war bloß darüber glücklich, daß die drei Ärzte einmütig ihre Einwilligung zur Reise nach Lourdes erteilten. Es genügte ihm zu wissen, daß sie geheilt werden konnte. Er hätte sie bis an das Ende der Welt begleitet.

      Ach, jene letzten Tage in Paris, in welcher Aufregung hatte er sie verbracht! Der nationale Pilgerzug war zum Aufbruch bereit. Er war auf den Gedanken verfallen, Marie in das Hospital aufnehmen zu lassen, um die großen Kosten zu ersparen. Dann hatte er seinen eigenen Eintritt in die Hospitalität von NotreDame de Salut durchgesetzt. Herr von Guersaint brannte vor Verlangen, die Pyrenäen kennenzulernen. Im übrigen bekümmerte er sich um gar nichts, nahm es ruhig an, daß der junge Priester für ihn die Reise bezahlte und sich seiner wie eines Kindes annahm. Seine Tochter Blanche hatte ihm noch im letzten Augenblicke ein Zwanzigfrankstück zugesteckt. Er hielt sich daher für reich. Die arme, heldenmütige Blanche besaß einen verborgenen Schatz, fünfzig Frank Ersparnisse, die man hatte annehmen müssen, denn auch sie wollte etwas zur Heilung ihrer Schwester beitragen. Sie konnte nicht mitreisen, da sie durch ihre Stunden in Paris zurückgehalten war, indes die Ihrigen in weiter Ferne in dem Zauberbanne der Wundergrotte auf den Knien lagen. So war man abgefahren und rollte nun dahin, rollte rastlos immer weiter.

      Auf der Station Châtellerault riß ein lautes Stimmengewirr Pierre aus seinen Träumen. Was gab es denn? War man schon in Poitiers angekommen? Aber es war ja kaum Mittag, und Schwester Hyacinthe hatte das Angelus beten und dreimal drei Ave wiederholen lassen. Die Stimmen verhallten, ein neuer Gesang hob an und wurde nach und nach zu einem Klageliede. Noch fünfundzwanzig lange Minuten dauerte es, ehe man nach Poitiers kam. Dort sollte ein halbstündiger Aufenthalt den Leidenden Erleichterung verschaffen. Alle befanden sich in sehr trauriger Verfassung in dem verpesteten, glühendheißen Wagen. Tränen rollten über die Wangen der Frau Vincent, ein leiser Fluch war dem sonst so geduldigen Herrn Sabathier entschlüpft, während der Bruder Isidor, die Grivotte und Frau Vêtu gar nicht mehr zu leben schienen und Trümmerstücken glichen, die von der Flut mit fortgerissen wurden. Marie hatte ihre Augen geschlossen und gab keine Antwort mehr; sie wollte sie nicht wieder öffnen, da der entsetzliche Anblick des Gesichtes der Elise Rouquet, der für, sie das Bild des Todes war, sie unablässig verfolgte. Und während der Zug, der diese menschliche Verzweiflung mit sich führte, unter dem gewitterschwangeren Himmel dahinbrausend seine Geschwindigkeit vergrößerte, wurden alle in einen neuen Schrecken versetzt. Der Mann atmete nicht mehr, eine Stimme rief, er habe seinen Geist aufgegeben.

       III

      Als der Zug in Poitiers anhielt, beeilte sich Schwester Hyacinthe, auszusteigen. Die Bahnbediensteten öffneten die Türen. Die Pilger stürzten ins Freie.

      »Wartet, wartet!« wiederholte sie immer von neuem. »Laßt mich zuerst heraus, ich will nachsehen, ob es ganz aus mit ihm ist.«

      Als sie in die andere Abteilung eingestiegen war, richtete sie den Kopf des Mannes in die Höhe; anfangs glaubte sie, daß er in der Tat hinübergegangen wäre, als sie ihn bleich und mit leeren Augen daliegen sah. Aber sie fühlte noch ein schwaches Atmen.

      »Nein, nein! Er atmet noch! Schnell, wir müssen uns beeilen!«

      Und als sie die andere Schwester bemerkte, die an diesem Ende des Wagens ihres Amtes waltete, rief sie:

      »Ich bitte Sie, Schwester Claire des Anges, holen Sie schnell den Pater Massias herbei,


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