Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
es das Zeichen zur Abfahrt. Noch zwei Minuten hatte man Zeit. Ein letztes Drängen und Hasten begann. Leute kamen zurück mit Nahrungsmitteln in Papier eingewickelt, mit Flaschen und Krügen, die sie an dem Brunnen gefüllt hatten. Viele konnten ihren Wagen nicht wiederfinden, und liefen verzweifelt den Zug entlang, während die Kranken sich unter dem beschleunigten Geklapper der Krücken rascher vorwärtsschoben und andere, denen das Gehen Schwierigkeiten verursachte, am Arme von Pflegerinnen ihre Schritte zu beschleunigen suchten. Vier Männern kostete es unendliche Mühe, Frau Dieulafay wieder in ihre Abteilung erster Klasse zurückzuschaffen. Schon waren die Vignerons, die sich begnügten, zweiter Klasse zu reisen, wieder in ihrer Abteilung mitten unter einer gewaltigen Menge von Körben, Kasten und Koffern, die es dem kleinen Gustave unmöglich machten, seine armen, verkrüppelten Glieder auszustrecken. Dann erschienen sie alle wieder: Frau Maze glitt in ihrer stummen Weise herein; Frau Vincent hob ihr liebes Töchterchen vorsichtig in den Wagen, immer von der Angst gepeinigt, sie plötzlich einen Schrei ausstoßen zu hören. Frau Vêtu mußte hereingeschoben werden, nachdem man sie aus der Betäubung ihrer Schmerzen erweckt hatte. Elise Rouquet, die sich bei ihrem gierigen Trinken naß gemacht hatte, wischte sich ihr furchtbares Gesicht ab. Während jeder seinen Platz wieder einnahm, hörte Marie ihrem Vater zu, der ganz entzückt war, daß er bis an das Ende des Bahnhofs gegangen, bis zu einem kleinen Weichenstellerhäuschen, von wo aus man ein wirklich sehenswertes Landschaftsbild zu sehen bekäme.
»Wünschen Sie, daß wir Sie sofort wieder niederlegen?« fragte Pierre, den das angstverzerrte Gesicht der Kranken tief bekümmerte.
»O nein, nein, nachher!« antwortete sie. »Ich habe noch Zeit genug, die Räder in meinem Kopfe rasseln zu hören!«
Schwester Hyacinthe bat Ferrand, noch einmal nach dem Manne zu sehen, bevor er in den Küchenwagen zurückkehrte. Sie wartete immer noch auf den Pater Massias, sehr verwundert über sein unerklärliches Ausbleiben. Sie verzweifelte aber trotzdem nicht, denn auch Schwester Claire des Anges war noch nicht wieder erschienen.
»Bitte, Herr Ferrand, sagen Sie mir, ob der Unglückliche in direkter Gefahr schwebt.«
Von neuem untersuchte, behorchte und beklopfte ihn der junge Arzt. Dann zuckte er entmutigt die Achseln und sagte mit leiser Stimme:
»Meine feste Überzeugung ist, daß Sie ihn nicht mehr lebend nach Lourdes bringen werden.«
Alle Köpfe fuhren beängstigt in die Höhe. Wenn man nur wenigstens den Namen des Mannes gewußt hätte, woher er käme und wer er wäre! Aber niemand kannte den Unglücklichen, aus dem kein einziges Wort herauszubringen war und der in dem Wagen sterben wollte, ohne daß jemand imstande gewesen wäre, einen Namen auf sein Grab zu setzen!
Schwester Hyacinthe kam der Gedanke, ihn zu durchsuchen.
»Herr Ferrand, sehen Sie doch einmal in seine Taschen!«
Vorsichtig durchsuchte er den Mann. In den Taschen fand er nichts weiter als einen Rosenkranz, ein Messer und drei Sous. Daraus ließ sich nichts entnehmen.
Eine Stimme meldete in diesem Augenblicke die Schwester Claire des Anges und den Pater Massias. Dieser hatte sich bei einem Gespräch mit dem Kuraten von SainteRadegonde in einem Wartesaale verspätet. Es entstand eine lebhafte Bewegung. Alles schien einen Augenblick gesund. Aber der Zug wollte abfahren, die Bahnbediensteten schlossen schon die Türen, man mußte die Letzte Ölung in aller Eile vornehmen, wenn man nicht eine zu lange Verzögerung verursachen wollte.
»Hier, hier, verehrungswürdiger Pater!« rief Schwester Hyacinthe. »Ja, ja, steigen Sie ein! Unser unglücklicher Kranker ist hier!«
Pater Massias, der, obgleich fünf Jahre älter als Pierre, doch dessen Mitschüler im Seminar gewesen war, hatte einen großen, hageren Körper mit dem Gesichte eines Aszeten, das ein lichter Bart umrahmte, und in dem zwei unstät hin und her flackernde Augen glühten. Er war weder der von Zweifeln gepeinigte Priester, noch der Priester mit dem blinden Glauben eines Kindes, er war ein Apostel, von glühendem Fanatismus beseelt und stets bereit, zu kämpfen und zu siegen für den unbefleckten Ruhm der Heiligen Jungfrau. Unter seinem schweren Pilgergewande mit großer Kapuze strahlte er von Kampfesmut.
Sogleich hatte er aus seiner Tasche das Fläschchen mit dem geweihten Öl hervorgezogen. Die Zeremonie nahm ihren Anfang unter dem Zuschlagen der Türen und dem hastigen Hin und Her der Pilger, die sich verspätet hatten, während der Stationschef mit unruhigen Blicken auf die Bahnhofsuhr schaute, da er wohl sah, daß er einige Minuten zugeben mußte.
»Credo in unum Deum ...«, murmelte der Pater rasch.
»Amen!« antworteten Schwester Hyacinthe und der ganze Wagen.
Die es vermocht hatten, waren auf den Bänken niedergekniet. Die anderen falteten die Hände, verdoppelten das Zeichen des Kreuzes. Als bei dem Murmeln der Gebete das Klagelied der Agende folgte, da hoben sich die Stimmen, und kräftig erbrauste mit dem Kyrie eleison das heiße Verlangen nach der Vergebung der Sünden. Sein ganzes Leben, das man nicht kannte, sollte ihm vergeben sein und unbekannt und triumphierend sollte er eingehen in das Reich Gottes!
»Christe, exaudi nos.«
»Ora pro nobis, sancta Dei Genitrix.«
Pater Massias hatte die silberne Nadel herausgezogen, an der ein Tropfen geweihten Öles zitterte. Er konnte bei der Unordnung und vor den vielen Neugierigen, die ihre Köpfe durch die Tür steckten, nicht daran denken, die Ölung, wie es sonst gebräuchlich war, an allen Sinneswerkzeugen vorzunehmen als den Türen, die das Schlechte eindringen lassen. Wie ihn die Vorschrift ermächtigte, wenn der Fall dringend war, mußte er sich mit einer einzigen Salbung begnügen. Er nahm sie an dem Munde vor, an dem bleichen, halbgeöffneten Munde, aus dem kaum ein leiser Atemzug kam, während das Gesicht mit den geschlossenen Augenlidern, schon vollständig erstarrt, wieder zu Staub und Erde geworden zu sein schien.
»Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgent tibi Dominus, quidquid per visum, auditum, oderatum, gustum, tactum deliquisti.«
Der Schluß der Zeremonie ging in dem Lärm und der Abfahrt verloren. Der Pater hatte kaum noch Zeit, den kleinen Tropfen mit dem Stückchen Watte aufzutrocknen, das Schwester Hyacinthe bereit hielt. Er mußte den Wagen verlassen und den seinigen so rasch als möglich zu erreichen suchen, nachdem er die Flasche mit dem geweihten Öle wieder sorgfältig verwahrt hatte.
»Wir können nicht länger mehr warten, es ist unmöglich«, wiederholte der Stationschef in großer Erregung. »Sorgen Sie dafür, daß man sich beeilt!«
Endlich war es so weit. Alles hatte seinen Platz wieder eingenommen und war wieder in seine Ecke zurückgekehrt. Frau von Jonquière hatte, da der Zustand der Grivotte sie immer noch heftig beunruhigte, ihren Platz gewechselt und sich in ihre nächste Nähe gesetzt, Herrn Sabathier gegenüber, der in resigniertem Stillschweigen verharrte. Schwester Hyacinthe war nicht wieder in ihre Abteilung zurückgekehrt, da sie sich entschlossen hatte, bei dem Manne zu bleiben, um über ihn zu wachen und ihn zu pflegen. So konnte sie auch gleich mit für den Bruder Isidor sorgen, dessen Schwester Martha nicht wie sie dem Unglücklichen Erleichterung schaffen konnte. Marie fühlte erbleichend auf ihrem traurigen Lager schon jetzt das Stoßen des Zuges, noch bevor er unter der bleischweren, niederdrückenden Sonnenhitze seine Fahrt von neuem begonnen hatte, mit seiner Krankenlast in der verpesteten Atmosphäre der überhitzten Wagen weiterrollend.
Da ertönte ein lauter, langgezogener Pfiff, die Lokomotive begann zu schnaufen, und Schwester Hyacinthe erhob sich mit den Worten:
»Das Magnifikat, meine lieben Kinder!«
IV
Als der Zug sich in Bewegung setzte, wurde die Türe noch einmal geöffnet und ein Bahnbediensteter schob ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren in die Abteilung, in der Marie und Pierre sich befanden.
»Hier ist noch ein Platz! Rasch, rasch!«
Die Gesichter wurden länger, man wollte Einspruch erheben. Aber Schwester Hyacinthe rief mit lauter Stimme:
»Wie? Du bist es, Sophie? Du willst