Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
und strahlte aus der Tiefe ihrer schönen blauen, immer zärtlich blickenden Augen hervor. Sie war vielleicht nicht hübsch, aber anbetungswürdig, zart, schlank, mit der Brust eines Knaben unter ihrem Schürzenlatz, eines braven Knaben mit schneeiger Haut, übersprudelnd von Gesundheit, Frohsinn und Unschuld.
»Aber die liebe Sonne löst uns schon ganz auf! Ich bitte Sie, gnädige Frau, ziehen Sie auch Ihren Vorhang herunter!«
In der Ecke neben der Schwester saß Frau von Jonquière und hielt auf ihren Knien ihre kleine Reisetasche. Sie zog langsam den Vorhang herunter. Brünett und kräftig, war sie noch immer eine angenehme Erscheinung, obgleich sie schon eine Tochter von vierundzwanzig Jahren hatte, Raymonde, die sie aus Anstandsrücksichten mit zwei anderen freiwilligen Krankenpflegerinnen, Frau Desagneaux und Frau Volmar, in der ersten Klasse hatte fahren lassen. Sie war Leiterin eines Saales in dem Hospital NotreDame des Douleurs in Lourdes und verließ ihre Kranken nicht. Außen an der Wagentüre hing das vorschriftsmäßige Plakat, auf dem unter ihrem eigenen Namen die Namen der beiden Schwestern von Mariä Himmelfahrt geschrieben standen, die sie begleiteten. Als Witwe eines ruinierten Mannes lebte sie mit ihrer Tochter bescheiden von vier bis fünftausend Frank Rente in einem Hofe der Rue Vaneau und war von einer unerschöpflichen Wohltätigkeit. Sie widmete ihre ganze Zeit und Tätigkeit dem Hospital NotreDame de Salut, dessen rotes Kreuz sie auf ihrem halbseidenen Karmelitergewand trug, und zu dessen tätigsten Anhängerinnen sie gehörte. Sie war von stolzer Gemütsart, liebte es, umschmeichelt und geliebt zu werden; und zeigte sich stets hochbeglückt über diese alljährliche Reise, die ihre Leidenschaft und ihr Herz befriedigte.
»Sie haben recht, Schwester, wir wollen es uns bequem machen. Ich weiß nicht, warum ich mich mit dieser Tasche herumplage.«
Sie stellte sie neben sich unter die Bank.
»Warten Sie«, sagte Schwester Hyacinthe, »Sie haben den Wasserkrug auf den Knien. Er belästigt Sie.«
»Ach nein, ganz gewiß nicht! Lassen Sie ihn nur! Er muß doch irgendwo seinen Platz haben.«
Dann taten sie beide, wie sie gesagt hatten, und richteten sich so bequem wie möglich für einen Tag und eine Nacht mit ihren Kranken ein. Das unangenehme war, daß sie Marie nicht hatten mit in ihre Abteilung nehmen können, da diese Pierre und ihren Vater bei sich hatte behalten wollen. Aber man verkehrte wenigstens gut nachbarlich miteinander und unterhielt sich über die niedere Scheidewand hinweg. Übrigens bildete der ganze Wagen mit seinen fünf Abteilungen, jede zu zehn Plätzen, nur ein einziges Zimmer voll Menschen, gewissermaßen einen fahrenden allgemeinen Saal, den man mit einem Blicke überschauen konnte. Er war mit der nackten gelben Holzbekleidung der Wände und dem weiß angestrichenen Tafelwerk der Decke ein wirklicher Krankensaal und glich auch in der Unordnung und dem Durcheinander einem improvisierten Feldlazarett. Halb verborgen standen und lagen nebeneinander unter der Bank Krüge, Schüsseln, Besen und Schwämme. Da der Zug keinen Gepäckwagen mitnahm, so häuften sich die Gepäckstücke, Mantelsäcke, weiße Holzkisten, Hutschachteln, Säcke, ein elender Haufen, ärmliche, abgenutzte Sachen, mit Bindfaden zugebunden. In der Luft begann diese Platzversperrung von neuem. Dort hingen Kleider, Pakete und Körbe an kupfernen Haken und baumelten ohne Unterlaß hin und her. Und mitten unter all diesem Trödelkram wurden die Schwerkranken, die auf ihren schmalen Matratzen ausgestreckt lagen, von den ächzenden Stößen der Räder hin und her geschüttelt, während die, die sitzen konnten, den Rücken an die Wand lehnten und das bleiche Gesicht in die Hände drückten. Nach der Vorschrift sollte in jeder Abteilung eine barmherzige Schwester sein. Am andern Ende des Wagens befand sich auch eine zweite Schwester von Mariä Himmelfahrt, Schwester Claire des Anges. Gesunde Pilger erhoben sich und fingen schon zu essen und zu trinken an. In einer Frauenabteilung befanden sich zehn Pilgerinnen, alte und junge, eng aneinander gedrückt, alle von derselben traurigen und bemitleidenswerten Häßlichkeit. Und da man es wegen der Schwindsüchtigen, die in der Abteilung waren, nicht wagte, die Fenster herunterzulassen, so entstand bald eine drückende Hitze und ein unerträglicher Geruch, den die Stöße des in voller Schnelligkeit dahinrollenden Zuges nach und nach überallhin auszubreiten schienen.
In Juvisy hatte man den Rosenkranz gebetet. Und es schlug gerade sechs Uhr – man fuhr blitzschnell an dem Bahnhof von Brétigny vorüber – als sich Schwester Hyacinthe erhob. Sie leitete die Andachtsübungen, deren Verlesung die meisten der Pilger in einem Buche mit blauem Einbande folgten.
»Das Angelus, meine Kinder«, sagte sie, wie eine Mutter ihnen zulächelnd, was ihrer Jugend so reizend stand.
Von neuem folgten die Ave aufeinander. Und als sie beendet waren, beobachteten Pierre und Marie voll Teilnahme zwei Frauen, die die anderen beiden Ecken ihrer Abteilung einnahmen. Die eine von ihnen, die zu Mariens Füßen saß, war eine zarte blonde Erscheinung mit dem Aussehen einer Bürgersfrau, etwa dreißig Jahre alt, aber vor der Zeit verblüht. Sie hielt sich bescheiden im Hintergrunde und nahm kaum etwas Platz weg mit ihrem dunklen Kleide, den gebleichten Haaren, ihrer langen, schmerzgebeugten Gestalt, die hoffnungslose Verlassenheit und unermeßliche Trauer atmete. Die andere ihr gegenüber, die auf derselben Bank wie Pierre saß, eine Arbeiterin von gleichem Alter, mit einer schwarzen Haube und einem von Elend und Sorgen entstellten Gesicht, hielt auf ihren Knien ein kleines siebenjähriges Mädchen, das aber kaum vier Jahre alt zu sein schien, so blaß und verkümmert sah es aus. Die Nase war dünn, die Augenlider bläulich und geschlossen in dem wachsbleichen Gesicht. Sprechen konnte das Kind nicht, es hatte nur ein leises Klagen, ein schwaches Stöhnen, das jedesmal das Herz der Mutter zerriß.
»Würde das Kind vielleicht einige Weinbeeren essen?« fragte die bis dahin stumme Dame in zaghaftem Tone. »Ich habe welche in meinem Korbe.«
»Ich danke«, antwortete die Arbeiterin. »Sie nimmt nur Milch und ... Ich habe mich damit vorgesehen und eine Flasche voll mitgenommen.«
Und dann erzählte sie, dem Mitteilungsbedürfnis der Elenden nachgebend, ihre Geschichte. Sie hieß Frau Vincent; sie hatte ihren Mann verloren, der, Goldarbeiter von Beruf, an der Schwindsucht gestorben war. Allein geblieben mit ihrer kleinen Rose, die ihre Leidenschaft war, hatte sie Tag und Nacht als Näherin sich abgearbeitet, um sie groß zu ziehen. Da war die Krankheit gekommen. Seit vierzehn Monaten hatte sie das Kind auf ihren Armen gehalten, das immer elender wurde und zurückging und ganz und gar verfiel. Da war sie, die nie zur Messe ging, eines Tages, von Verzweiflung getrieben, in eine Kirche getreten, um Genesung für ihre Tochter zu erflehen; und da hatte sie eine Stimme vernommen, die ihr riet, das Kind nach Lourdes zu bringen, wo sich die Heilige Jungfrau seiner erbarmen würde. Da sie niemand kannte und auch nicht wußte, wie die Wallfahrten eingerichtet waren, so hatte sie nur den einen Gedanken gehabt: zu arbeiten, Geld zur Reise zu sparen, ein Billett zu nehmen und mit den dreißig Sous, die ihr übriggeblieben waren, abzufahren und nur eine Flasche Milch für das Kind mitzunehmen, ohne auch nur daran zu denken, für sich selbst ein Stück Brot zu kaufen.
»Welche Krankheit hat die liebe Kleine denn?« fragte die Dame.
»Oh, der Leib ist sicherlich nur aufgetrieben. Aber die Ärzte haben andere Namen dafür. Zuerst hatte sie nur leichte Leibschmerzen. Dann schwoll der Leib an, und sie litt so schwer, daß es einem die Tränen aus den Augen trieb. Jetzt hat sich der Leib wieder gesenkt, aber sie lebt eigentlich gar nicht mehr, sie hat keine Kräfte mehr, so mager ist sie geworden, und durch das unaufhörliche Schwitzen zehrt sie sich noch ganz ab.«
Die Mutter beugte sich, als Rose stöhnte und die Augen öffnete, bestürzt und erblassend zu ihr nieder.
»Mein Kleinod, mein Schatz, was willst du? ... Willst du trinken?«
Das kleine Mädchen schloß seine leeren Augen wieder, deren mattes Blau man einen Augenblick hatte sehen können. Sie antwortete nicht einmal und lag in ihrem totenähnlichen Zustand zurückgesunken, in ihrem weißen Kleidchen ganz weiß da, eine letzte Koketterie der Mutter, die diese unnötige Ausgabe gemacht hatte in der Hoffnung, die Heilige Jungfrau würde der kleinen Kranken viel gnädiger sein, wenn sie gut und ganz weiß gekleidet wäre.
Nach einem kurzen Stillschweigen fing Frau Vincent das Gespräch von neuem an:
»Und Sie, Sie reisen gewiß Ihretwegen nach Lourdes? Man sieht es Ihnen an, daß Sie krank sind.«
Die Frau fuhr erschreckt