Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
die Blut speit, und deren Nägel schon bläuliche Farbe angenommen haben, so daß man glaubte, sie stehe auf dem Punkte, ihren letzten Seufzer auszuhauchen, hat nur nötig, einen kleinen Löffel voll Wasser zu trinken. Das Todesröcheln hört auf, sie richtet sich empor, antwortet auf die Litaneien und verlangt eine Bouillon. Bei Julie Jadot waren vier Löffel nötig. Aber sie hielt schon ihren Kopf nicht mehr aufrecht und war von so zarter Konstitution, daß die Krankheit sie ganz aufzulösen schien. In wenigen Tagen wurde sie gesund. Anna Catry, die die Schwindsucht im höchsten Grade hat – ihr linker Lungenflügel ist bereits zur Hälfte zerstört –, wird fünfmal in das kalte Wasser getaucht, ganz gegen jede Vernunft. Sie ist geheilt, die Lunge ist gesund. Eine andere, ein schwindsüchtiges junges Mädchen, von fünfzehn Ärzten aufgegeben, hat gar nichts weiter getan, als daß sie in der Grotte niederkniete, ganz zufällig, und war auf das freudigste überrascht, so im Vorbeigehen, durch einen glücklichen Zufall geheilt worden zu sein. Sie war ohne Zweifel gerade zu der Stunde gekommen, da die Heilige Jungfrau, von Mitleid ergriffen, das Wunder aus ihren unsichtbaren Händen herabgleiten läßt.
Und Wunder und immer neue Wunder folgten! Wie Traumesblumen regneten sie von einem klaren, milden Himmel hernieder. Es waren ergreifende dabei, aber auch kindische befanden sich darunter. Eine alte Frau, die eine steife Hand hatte und sie seit dreißig Jahren nicht rühren konnte, wusch sich und machte das Zeichen des Kreuzes. Die Schwester Sophie, die wie ein Hund bellte, taucht in den Quell und steigt heraus, mit klarer Stimme einen Choral singend. Mustapha, ein Türke, betet zu der weißen Frau und bekommt sein rechtes Auge wieder, nachdem er eine Kompresse aufgelegt hat. Ein Offizier der Turkos wurde bei Sedan beschützt, und ein Kürassier von Reichshofen wäre durch einen Schuß ins Herz getötet worden, wenn die Kugel, die sein Notizbuch durchbohrt hatte, nicht vor einem Bilde der Jungfrau von Lourdes steckengeblieben wäre. Und die Kinder, die armen, leidenden Kleinen, auch sie finden Gnade. Ein gelähmter kleiner Knabe von fünf Jahren wurde ausgezogen, fünf Minuten lang unter den kalten Strahl der Fontäne gehalten und konnte aufstehen und gehen. Ein anderer von fünfzehn Jahren, der in seinem Bette nur tierische Schreie ausstieß, sprang aus dem Weiher heraus mit dem Freudenrufe: »Ich bin geheilt!« Ein dritter, ein ganz kleiner Junge von zwei Jahren, der noch keinen Schritt gegangen war, blieb eine Viertelstunde in dem kalten Wasser und machte dann, vergnügt lächelnd, wie ein kleines Menschenkind die ersten Schritte. Bei allen, bei den Kleinen wie bei den Großen, waren die Schmerzen heftig, indes das Wunder wirkte. Aber welches Wohlbefinden folgte dann! Die Ärzte trauten ihren Augen nicht, ihr Erstaunen wuchs bei jeder Heilung, wenn sie ihren Kranken laufen, springen und mit einem wahren Heißhunger essen sahen. Alle diese Auserwählten, diese geheilten Frauen gingen kilometerweit, setzten sich dann zu Tisch vor ein junges Huhn und schliefen schließlich zwölf Stunden lang mit geballten Fäusten. Keine Rekonvaleszenz trat ein, es war ein plötzlicher Sprung aus dem Todeskampfe zur vollen Gesundheit. Die Glieder hatten sich neu gebildet, die Wunden geschlossen, alle Organe befanden sich wieder in vollkommen unversehrtem Zustande, die Körperfülle war zurückgekehrt, und alles in der Geschwindigkeit eines Blitzstrahls. Die Wissenschaft war verhöhnt, man gebrauchte nicht einmal die einfachsten Vorsichtsmaßregeln, da die Schwindsüchtigen schweißbedeckt in das eiskalte Wasser stiegen. Man ließ die Wunden ruhig in Fäulnis übergehen, ohne irgendwelche antiseptische Vorkehrung zu treffen. Und welch ein Jubelgesang erschallt dann nach jeder Heilung, welche Rufe der Dankbarkeit und Liebe! Die durch das Wunder Gerettete wirft sich auf die Knie nieder, alles weint, Bekehrungen finden statt, Protestanten und Juden treten zum Katholizismus über, und andere Wunder des Glaubens ereignen sich, bei denen der Himmel triumphiert. Die Bewohner stehen in Menge versammelt, um die Geheilte bei ihrer Rückkehr in das Dorf zu empfangen, während die Glocken ihre feierlichen Stimmen erschallen lassen. Wenn man sie leichtfüßig aus dem Wagen springen sieht, ertönen Freudenrufe, und man stimmt das Magnifikat an. Ruhm und Ehre der Heiligen Jungfrau! Ewige Dankbarkeit und Liebe!
Der Zug rollte vorwärts, rollte weiter und weiter. Man fuhr gerade durch Coutras, es war sechs Uhr. Schwester Hyacinthe erhob sich, klatschte in die Hände und wiederholte noch einmal:
»Das Angelus, meine Kinder!«
Niemals waren die Aves mit gläubigerer Inbrunst gebetet worden. Da begriff Pierre plötzlich, da fand er die richtige Erklärung für diese Pilgerfahrten, für alle die Züge, die durch die ganze Welt rollten, für diese zusammenströmenden Menschenmassen, für Lourdes selbst, das wie das Heil für Leib und Seele strahlte. Jammergestalten sah er seit diesem Morgen vor sich, sah, wie sie in ihren Schmerzen röchelten und stöhnten! Sie waren alle von der Wissenschaft verurteilt und aufgegeben und waren es überdrüssig, Ärzte zu konsultieren und sich mit nutzlosen Heilmitteln quälen zu lassen. So begriff man auch, daß sie in dem heißen Verlangen, zu leben, und nicht gewillt, sich mit den Anordnungen der ungerechten Natur zufrieden zu geben, sich dem Traume einer überirdischen Gewalt hingaben, einer allmächtigen Gottheit, die vielleicht die bestehenden Gesetze aufheben, den Lauf der Gestirne verändern und die Vergangenheit wieder wachrufen würde. Blieb ihnen denn Gott nicht, wenn die Erde sie im Stiche ließ? Oh, wer doch glauben könnte, daß es irgendwo einen höchsten Gerichtsherrn gibt, der die Ungerechtigkeiten der Menschen und der Dinge ausgleicht, wer doch glauben könnte, daß es einen Erlöser gibt, einen Tröster, der der Herr ist, der die Ströme zu ihrer Quelle zurückfließen lassen, den Greisen die Jugend wiedergeben und die Toten auferwecken kann! Wer sich sagen könnte, wenn man mit Wunden bedeckt ist, wenn man verkrüppelte Glieder hat, wenn der Leib durch Geschwüre angeschwollen und die Lunge zerstört ist, wer sich dann sagen könnte, das hat nichts zu bedeuten, alles das kann verschwinden und wiedererstehen auf ein Zeichen der Heiligen Jungfrau, und es genügt, zu ihr zu beten, sie zu rühren und von ihr mit einem Wunder begnadet zu werden! Und dann, welch eine Quelle himmlischer Hoffnungen ist es, wenn man den überreichen Strom dieser schönen Geschichten fließen läßt, die die fieberhaft erregte Einbildungskraft der Kranken und Siechen bezaubert und berauscht! Seitdem die kleine Sophie Couteau mit ihrem geheilten weißen Fuß in den Wagen gestiegen war und den grenzenlosen Himmel des Göttlichen und Übernatürlichen aufgetan hatte, wie verstand man da den Hauch von wunderbarer Genesung, der durch den Raum zog, die Verzweifelten von ihrem Siechbett emporrichtete und die Augen aller erglänzen ließ. Das Leben war auch für sie noch möglich, vielleicht würden sie selbst es bald von neuem anfangen.
Ja, so verhielt es sich. Wenn dieser jammervolle Zug dahinrollte und immer weiter und weiter rollte, wenn der Wagen voll war, wenn die anderen voll waren, wenn Frankreich und die Welt von den entferntesten Winkeln der Erde her von ähnlichen Zügen durchbraust wurden, wenn mehr als dreimalhunderttausend Gläubige, die Tausende von Kranken mit sich führten, von einem Ende des Landes zum andern sich in Bewegung setzten, so geschah dies alles, weil dort unten die Grotte in ihrer Glorie strahlte wie ein Leuchtturm der Hoffnung und des Glaubens, wie der Triumph des Unmöglichen über die unerbittliche Materie. Diesen Traum zu träumen, das war das große, unaussprechliche Glück. Wenn von Jahr zu Jahr der Erfolg der Pilgerzüge sich steigerte, so kam das daher, weil den in ihrem Verlangen nach Trost herbeigeeilten Völkerscharen das köstliche Brot der Hoffnung winkte, nach dem die leidende Menschheit unaufhörlich Hunger hat. Und es waren nicht nur die physischen Leiden, die nach Heilung riefen, das ganze moralische und intellektuelle Sein klagte laut sein Leid in dem unstillbaren Durste nach Glück. Glücklich sein, die Gewißheit seines Lebens in den Glauben setzen, sich bis zum Tode auf diesen festen und einzig sicheren Reisestab stützen können, das war der Wunsch, der aus allen Herzen aufstieg, der alle Schmerzen niederknien ließ in dem Flehen um Gnade, um das geistige Heil für sich selbst und für die, die man liebt. Der ungeheure Schrei pflanzte sich fort, stieg empor und erfüllte den Raum, der Schrei: Glücklich sein für immer, im Leben und im Tode!
Pierre hatte gesehen, wie alle die Leidenden, die ihn umgaben, das Rasseln der Räder nicht mehr vernahmen und wie sie ihre Kräfte wiederfanden mehr und mehr nach jeder zurückgelegten Meile, die sie dem Wunder näherbrachte. Selbst Frau Maze wurde gesprächig in der festen Überzeugung, daß die Heilige Jungfrau ihren Gatten zu ihr zurückführen würde. Frau Vincent wiegte selig lächelnd ihre kleine Rose und fand sie viel weniger krank als jene halbtoten Kinder, die man in das eiskalte Wasser tauchte und die dann spielten. Herr Sabathier plauderte mit Herrn von Guersaint und erzählte ihm, daß er im Oktober, wenn er seine Beine wieder gebrauchen könnte, nach Rom gehen würde, eine Reise, die er schon seit fünfzehn Jahren von Jahr zu Jahr verschoben hätte. Frau Vêtu, die sich