Lourdes. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
sich an die erste Pilgerfahrt, die er im Jahre 1875 geleitet hatte, an die schreckliche, endlose Fahrt ohne Kopfkissen, ohne Matratzen, mit halbtoten Kranken, bei denen man gar nicht wußte, wie man sie ins Leben zurückrufen sollte. Und vollends die Ankunft in Lourdes! Nicht das geringste Transportmaterial war hergerichtet, weder Tragbahren, noch Wagen. Heute war alles auf das beste geordnet, ein Hospital erwartete die Kranken, die man nicht mehr in Wagenschuppen auf Stroh zu legen brauchte. Welche Qual war das damals für jene Unglücklichen! Welche Willenskraft mußte der Mann besitzen, der sie dem Wunder zuführte! Der Pater lächelte sanft bei dem Gedanken an das Werk, das er vollbracht hatte.
Er fragte jetzt den Arzt, auf dessen Arm er sich stützte:
»Wie viele Pilger haben Sie denn im letzten Jahre gehabt?«
»Ungefähr zweimalhunderttausend. Das ist seither die Durchschnittssumme gewesen. Im Jahre der Krönung der Jungfrau stieg die Zahl auf fünfmalhunderttausend. Das war natürlich ein Ausnahmefall, der sicherlich beträchtlicher Anstrengungen der Propaganda bedurft hat. Selbstverständlich wird sich eine solche Menschenmenge nicht so leicht wieder hier zusammenfinden.«
Eine kurze Pause entstand, dann murmelte der Pater:
»Ohne Zweifel ... Das Werk ist gesegnet, es gedeiht von Tag zu Tag. Wir haben mehr als zweimalhunderttausend Frank Almosen für die Reise zusammengebracht. Gott wird mit uns sein, und ich bin überzeugt, wir werden morgen zahlreiche Heilungen zu konstatieren haben.«
Dann unterbrach er sich und fuhr nach einer Weile fort:
»Ist der Pater Dargelès nicht gekommen?«
Doktor Bonamy machte eine Bewegung mit der Hand, die besagen sollte, daß er es nicht wüßte. Der Pater Dargelès war mit der Redaktion des »Journal de la Grotte« betraut. Er gehörte dem Orden der Väter von der Unbefleckten Empfängnis an, die vom Bischof in Lourdes angesiedelt und dort unumschränkte Herren waren. Wenn aber die Väter von Mariä Himmelfahrt den nationalen Pilgerzug aus Paris hergebracht hatten, dem sich die Gläubigen aus den Städten Cambrai, Arras, Chartres, Troyes, Reims, Sens, Orleans, Blois und Poitiers anschlossen, hatte es den Anschein, als ob sie vollständig verschwunden wären. Man merkte ihre Allmacht weder in der Grotte noch in der Basilika. Sie schienen mit der Ablieferung aller Schlüssel auch jede Verantwortlichkeit von sich abzuwälzen. Allein wenn auch die Väter von der Unbefleckten Empfängnis verschwunden waren, so spürte man sie trotzdem wie die verborgene und höchste Kraft, die ohne Ermüdung an dem siegreichen Gedeihen des Hauses arbeitet. Sie machten sich nützlich bis zur eigenen Erniedrigung.
»Es ist wahr«, begann Pater Fourcade von neuem das Gespräch in einem heiteren Tone; »es ist wahr, man muß bei guter Zeit aufstehen, schon um zwei Uhr morgens ... Aber ich wollte doch da sein. Was würden denn sonst meine armen Kinder gesagt haben?«
»Drei Uhr fünfundzwanzig, noch fünfundzwanzig Minuten«, sagte Doktor Bonamy, der nach der Uhr sah und ein Gähnen unterdrückte und trotz seiner unterwürfigen Haltung im Grunde doch verdrießlich darüber war, daß er sein Bett zu so früher Morgenstunde hatte verlassen müssen.
Müßige Leute, in Gruppen geteilt, Geistliche, Herren in Überröcken und ein Dragoner offizier kamen und gingen auf dem matt erleuchteten Bahnsteig auf und ab. Andere saßen auf Bänken und plauderten oder schauten mit erwartungsvollen Blicken in die finstere Landschaft. Die hellerleuchteten Wartesäle öffneten ihre Pforten. Die Lichter in dem Restaurationszimmer wurden angezündet. Man bemerkte Marmortische und das mit Brot und Fruchtkörben, mit Flaschen und Gläsern beladene Büfett.
Am rechten Ende des Schutzdaches herrschte ein gewaltiges Durcheinander. Dort befand sich ein Tor für die Wagen, mit denen man die Kranken, wegschaffte. Eine Unmenge von Tragbahren und kleinen Wagen, ein Berg von Kissen und Matratzen versperrte den Bahnsteig. Drei Abteilungen von Sänftenträgern waren da, Männer aus allen Klassen, besonders junge Leute aus den besseren Ständen. Alle trugen auf ihren Röcken das rote, orangefarbengeränderte Kreuz. Die einen rauchten, während die anderen es sich in ihren kleinen Wagen bequem gemacht hatten und schliefen oder bei dem Lichte einer der Gasflammen eine Zeitung lasen.
Plötzlich grüßten die Sänftenträger. Ein Mann von väterlichem Aussehen, mit schneeweißen Haaren, einem guten, dicken Gesicht und großen, gläubigen Kinderaugen erschien. Es war der Baron Suire, Besitzer eines der größten Vermögen und großer Liegenschaften in Toulon, der Präsident der Hospitalität NotreDame de Salut.
»Wo ist Berthaud?« fragte er jeden mit geschäftiger Miene. »Wo ist Berthaud? Ich muß mit ihm sprechen.«
Jeder antwortete, und jeder gab einen andern Bescheid. Berthaud war der Direktor der Sänftenträger. Die einen hatten den Direktor soeben mit dem ehrwürdigen Pater Fourcade gesehen, die anderen behaupteten, er wäre auf dem Bahnhofsplatze und besichtige die Krankenwagen.
»Wenn der Herr Präsident wünscht, daß wir den Herrn Direktor holen sollen ...«
»Nein, nein, ich danke! Ich werde ihn wohl selbst finden.«
Während dieser Zeit saß Berthaud auf einer Bank am andern Ende des Bahnhofs und plauderte in Erwartung der Ankunft des Zuges mit einem jungen Freunde, Gérard de Peyrelongue. Er war ein Mann von vierzig Jahren mit schöner, großer und ebenmäßig gebauter Gestalt, der aus Liebhaberei ein Amt übernommen hatte. Einer streitbaren legitimistischen Familie angehörend und selbst von sehr reaktionärer Gesinnung, war er Staatsanwalt der Republik in einer Stadt des Südens, bis er am Tage nach der Veröffentlichung der Dekrete gegen die geistlichen Orden sich gewissermaßen selbst entlassen hatte durch einen aufsehenerregenden, beleidigenden Brief an den Justizminister. Er hatte die Waffen aber nicht aus der Hand gelegt, sondern war wie zum Protest der Hospitalität Notre Dame de Salut beigetreten und kam jedes Jahr nach Lourdes, überzeugt, daß die Wallfahrten der Republik unangenehm und schädlich wären, und daß Gott allein die Monarchie wieder herstellen konnte durch eines der Wunder, mit denen er in der Grotte so freigebig war. Im übrigen war er ein sehr vernünftiger Mann, er lachte gern und bewies eine liebenswürdige Barmherzigkeit für die armen Kranken, für deren Transport er während der drei Tage der nationalen Wallfahrt zu sorgen hatte.
»Also für dieses Jahr steht deine Heirat fest, mein lieber Gérard?« fragte er den jungen Mann, der neben ihm saß.
»Ohne Zweifel, wenn ich die Frau finde, die ich brauche«, antwortete dieser. »Vorwärts, Vetter! Gib mir einen guten Rat!«
Gérard de Peyrelongue, ein kleiner, magerer Mann mit rötlichbrauner Gesichtsfarbe, kräftig ausgebildeter Nase und stark hervorstehenden Backenknochen, stammte aus Tarbes, wo sein Vater und seine Mutter vor kurzem gestorben waren und ihm eine Rente von mehr als achttausend Frank hinterlassen hatten. Von starkem Ehrgeiz beseelt, hatte er in seiner Provinz die Frau nicht finden können, die er wollte, eine Frau aus einer vornehmen Familie, durch deren Verwandte er hoch steigen und es weit bringen würde. Auch er war der Hospitalität NotreDame de Salut beigetreten und begab sich ebenfalls jedes Jahr nach Lourdes in der unbestimmten Hoffnung, daß er dort unter der Menge der Gläubigen die Familie finden würde, deren er bedurfte, um seinen Weg in dieser Welt hienieden zu machen. Aber obgleich ihm schon mehrere junge Mädchen zu Gesicht gekommen waren, hatte doch noch keine ihn vollständig befriedigt.
»Nicht wahr, du wirst mir einen guten Rat geben ... Da ist zuerst Fräulein Lemercier, die mit ihrer Tante hierherkommt. Sie ist sehr reich, man spricht von mehr als einer Million. Aber sie stammt nicht aus unseren Kreisen, und ich halte sie für einen argen Tollkopf.«
Berthaud hob den Kopf.
»Ich habe dir schon gesagt, ich, für meine Person, ich würde Fräulein von Jonquière nehmen, die kleine Raymonde.«
»Aber sie hat ja keinen Sou.«
»Das ist wahr, kaum so viel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber ihre Person allein genügt schon vollständig. Sie ist vortrefflich erzogen und hat keine Neigung zum Verschwenden. Das ist ausschlaggebend, denn was hat es für einen Zweck, eine Reiche zu nehmen, wenn sie alles verbraucht, was sie dir mitbringt? Und dann, siehst du, kenne ich diese Damen gut, denn ich treffe sie während des Winters in den Salons von Paris. Du darfst schließlich auch den Onkel nicht vergessen, den Diplomaten,