Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas KlaeneЧитать онлайн книгу.
Er war gerade im Begriff zu gehen, als die Stille plötzlich einen ganz anderen Klang bekam. Die Stimmen von zwei Frauen drangen aus allernächster Nähe zu ihm. Er schaute auf das Fenster, konnte die beiden durch das rubbelige Reliefglas schemenhaft sehen. Mit dem, was er dann hörte und belauschte, war inhaltlich zwar kaum etwas anzufangen, und doch scheuchte es sein Gehirn und seine Gefühle auf.
»Du willst doch jetzt nicht im Ernst wegfahren! Hast doch noch nicht mal ein Wort mit unserem Jubelpaar gesprochen.«
»Das muss aber sein«, sagte die andere mit einer merkwürdigen Bestimmtheit, in der allerdings nichts Hartes war. Stattdessen aber eine liebevolle Klarheit. So wie die einer Lieblingslehrerin, für die man sich gerne sogar an die unangenehmste Aufgabe heranmacht.
»Aber jetzt ist doch eh alles vorbei.«
»Wenn’s vorbei ist, heißt das aber nicht, dass alles zu spät ist«, hörte Till von der Lehrerinnenstimme.
»Keine Ahnung, was du damit meinst, ist auch egal, aber ich finde, dass du dir zumindest bis nach dem Essen Zeit lassen könntest.«
»Nein, Ute, ich muss zu ihr. Und zwar jetzt. Es geht doch nicht, dass sie da so allein liegenbleibt. Ich möchte erst einmal einfach bei ihr sein.«
Es war nicht nur Neugierde, die Till beim Belauschen dieses rätselhaften Gesprächs aufhorchen ließ. Er fühlte sich angezogen von der Frau, die nun gleich mit so unbedingter Bestimmtheit abfahren würde, und in ihm flimmerte die Frage herum, woher diese Anziehung kam? Schließlich kannte er die Frau überhaupt nicht. Ihr Aussehen konnte auch nicht der Grund sein, weil sie für ihn durchs geriffelte Fenster nur als ein diffuser Flecken auszumachen war. Lag es an ihrer geheimnisvollen Mission, an der liebevollen Klarheit, an ihrer Stimme?
Ja, ihre Stimme war nicht irgendeine. Er kannte dieses Timbre, diese Klarheit und Intensität. Und er ahnte, woher. Ihm kam eine Erinnerung, die das Rätsel auf der Stelle zu lösen schien. Sogleich mischte sich allerdings die Einsicht dazwischen, dass diese Lösung keine sein konnte. Sie war viel zu unwahrscheinlich. Till blickte zur Seite auf die Marmorwand. Er versuchte, sich nur auf das zu konzentrieren, was er hörte. Bilder rasten durch seinen Kopf. Sie waren etwa drei Jahre alt. Bilder von einem Frühlingsabend und einer Nacht. Von einer Leidenschaft, die so köstlich nach Weite und Unendlichkeit schmeckte und noch in derselben Nacht wie weggesperrt verschwand.
Deichnacht
Die Luft war warm, ungewöhnlich sommerlich für diese Jahreszeit. Till war von einem Schulfreund zum 35. Geburtstag eingeladen worden, auf einem ehemaligen Bauernhof direkt hinter dem Deich. Die große Scheune mit ihren uralten Balken war zum Festsaal herausgeputzt. Unter ihrem mächtigen Dach duftete es nach Heu und verlockender Weiblichkeit, vor dem offenen Holztor nach Barbecue und salziger Meerluft. Die Stimmung kam an diesem Abend wie eine schleichende Flut daher. Unmerklich umspülte sie die große Gesellschaft. Sie riss Leinen los und zog hinaus, was da war. Keiner schien sich zu fragen, wohin er trieb. Man ließ sich einfach mitreißen, genoss die Ziellosigkeit eines von den Wellen getragenen Treibholzes.
Auch Katrin ließ sich mit der Menge treiben. Als Till sie entdeckte, behielt er sie wie ein nächtliches Leuchtfeuer im Blick. Er musste nicht lange auf sie zusteuern, er kam im Handumdrehen bei ihr an. Die beiden hatten viel mehr Themen als Möglichkeiten, sie alle in dieser aufgedrehten Gesellschaft zu bewältigen. Tanzend verwandelten sie alles um sich herum zum rotierenden Nebel. Der Raum, die Menschen verschwammen zu farbigen Linien, dann zu einer bedeutungslosen Fläche, auf der nur sie existierten. Es war schon weit nach Mitternacht. Aufgefordert von Zuccheros mediterraner Stimme bewegten ihre Körper sich im Takt der sanften Rhythmen. Sie gingen auf Tuchfühlung und blieben dort. Till legte seine Hände um Katrins Hüften, und sein Mund touchierte ihre Wange, als wäre es nicht zu vermeiden gewesen. Der letzte Akkord war noch nicht ganz verklungen, als Katrin seine Hand nahm.
»Komm!«, sagte sie in einer liebevollen Klarheit, als wäre alles, was nun passieren würde, eine diskret abgemachte Sache. Sie gingen durch die hohe, weit offen stehende Scheunentür nach draußen, vorbei an ein paar Gästen, die um den runden Grill geschart im nächtlichen Schwarz standen. Sie hatten die längst schlummernde Glut für ein paar restliche Steaks noch einmal in Gang gebracht. Das Flackern der Holzkohle warf rotes Licht auf ihre müden Gesichter, die nicht so aussahen, als würden sie das Paar bemerken, das neben ihnen aufgetaucht war und sogleich in der Nacht verschwand.
Den letzten schwachen Lichtschein, der aus der Scheune drang, hatten sie bereits ein paar Meter hinter sich gelassen. Vor ihnen musste die lange gepflasterte Hofzufahrt liegen. Davon gingen sie jedenfalls aus, weil sie Stunden zuvor aus dieser Richtung gekommen waren. Doch jetzt versteckte sie sich wie ein schwarzer Schlund, in den sie sich ohne ein Wort vorsichtig tapsend hinein begaben. Sobald sie eingetaucht waren, streckte Till seine Hand nach Katrin aus und bemerkte, dass ihre schon nach ihm suchte. Er nahm sie, und seine Handfläche und jedes Glied seiner Finger waren dabei hellwach. Sie umschlossen die kleine Hand behutsam wie eine Form, aus der anschließend eine Bronze gegossen werden sollte.
Langsam schlichen sie durch die Dunkelheit. Fast blind hatten sie sich bereits so weit vom Hof entfernt, dass Musik und Stimmen verschwanden. Nur Füße waren noch zu hören, wenn sie vom gepflasterten Weg abkamen und die Steinchen im Gras zum Knirschen brachten.
Dann hielten sie kurz inne, sahen sich an und erkannten lediglich einen Scherenschnitt ihres Gegenübers, der sich kaum vom Nachtschwarz abhob. Aber mit jedem Meter, den sie gingen, gewöhnten sich ihre Augen mehr an das spärliche Licht. Bald hatten sie keine Mühe mehr, die Richtung zu halten. Der zunehmende Mond warf einen schwachen Schimmer silbern auf die Pflasterung. Er zeigte ihnen krumme, schwarze Stämme, die als skurrile Gestalten links und rechts von ihnen patrouillierten.
Sie erreichten das Ende des Weges, kamen an einer kleinen asphaltierten Feldstraße an, die sich quer vor ihnen erstreckte. Unmittelbar hinter ihr erhob sich die ewig lange Deichlinie im schwachen Mondlicht.
Mitten auf der schmalen Fahrbahn blieben sie stehen. Till schloss Katrin nun einfach in seine Arme, und ihr Körper schmiegte sich an seinen, als hätte er schon lange auf diese Nähe gewartet. Als seine Lippen, wie zuvor beim Tanz, ihr Gesicht streiften, drückte sie ihn so innig, als wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Er schloss sie in seine Arme. Einen Moment lang standen sie stumm auf dem Asphalt. Sein Mund berührte ihr Ohr.
»Mitten auf der Straße, nur die Dunkelheit schaut zu! – Das fühlt sich nach Freiheit an.«
»Ja. – Aber da ist noch jemand.«
»Wer sollte schon hier sein?«, fragte er, ohne seinen Mund von ihrem Ohr zu wenden.
»Die Weite. Sie ist bei uns. Ich kann sie fühlen.«
»Komm, wir holen uns mehr davon.«
Katrin sah ihn an. Eine Strähne ihres Haars wehte über seinen Mund. Dann zog er sie über die Straße bis zum Zaun am Fuß des Deiches.
»Wohin willst du?«, flüsterte sie, als könnte sie der nächtlichen Einsamkeit noch nicht so recht trauen.
»Dorthin, wo sie unendlich ist, die Weite.«
Ein Schotterweg führte schräg auf die grasbewachsene Anhöhe. Nach ein paar Metern endete er vor einem eisernen Gattertor. Das Mondlicht ließ die hüfthohen Gitterstäbe deutlich erkennen. Till tastete über das Metall, er wollte das Tor öffnen, aber der Deichschäfer hatte es verriegelt.
»Macht nichts«, sagte er, legte seine Hände auf das glatte Eisen, stemmte sich hoch und kletterte hinüber. Katrin wollte es ihm gleich tun, raffte ihr Kleid, schwang ein Bein übers Tor, und sobald sie auf der breiten Stange saß, hob er sie herüber. Ihre Hände griffen nacheinander, und sie stürmten übers Gras geradewegs auf den Deichkamm zu.
Oben angekommen blickten sie gen Westen, dorthin, wo die Nordsee sich noch in der schwarzen Nacht versteckte. Es herrschte eine seltene Stille, in der nur ein lauer Wind, der vom Meer herüberkam, leise den Ton angab.
»Schade, die Flut ist noch nicht da«, sagte er, während er nah hinter Katrin stand und