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Doktor Gräsler, Badearzt. Arthur SchnitzlerЧитать онлайн книгу.

Doktor Gräsler, Badearzt - Arthur Schnitzler


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ganz verblüffende medizinische Kenntnisse zu verfügen scheint. Aber da ich nun schon einmal da bin, nicht wahr« – Und indes die Frau sich achselzuckend in ihr Schicksal zu ergeben schien, nahm er seine nähere Untersuchung vor, der Sabine mit ruhigen Augen aufmerksam folgte, worauf er tatsächlich, soweit es überhaupt notwendig war, sowohl die Patientin als deren Tochter vollkommen beruhigen konnte. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch, als Doktor Gräsler die Kranke für die nächsten Tage auf strenge Diät setzen wollte. Dagegen verwahrte sich die Frau aufs heftigste. Sie behauptete, in früheren Jahren derartige Zufälle, die sie als nervös bezeichnete, gerade durch Genuß von Schweinefleisch mit Sauerkraut und einer gewissen Sorte von Bratwürstchen, die hier leider nicht zu beschaffen wären, aufs rascheste kuriert zu haben; und nur diesmal hatte sie sich von Sabine abhalten lassen, mittags eine reichlichere Mahlzeit zu sich zu nehmen, welche Entsagung höchstwahrscheinlich das Fieber zur Folge gehabt hätte. Der Doktor, der diese Bemerkungen anfangs für Scherz hielt, erkannte im weiteren Verlauf der Unterhaltung, daß die Frau, im Gegensatz zu ihrer Tochter, über die medizinische Wissenschaft durchaus laienhaft, ja ketzerisch dachte, wie sie sich denn auch nachher an spöttischen Bemerkungen über die Heilquelle des Badestädtchens nicht genug tun konnte. So behauptete sie, daß zu Versandzwecken die Flaschen mit gewöhnlichem Brunnenwasser gefüllt würden, in das man Salz, Pfeffer und wohl auch noch bedenklichere Gewürze hineintäte, so daß Doktor Gräsler, der sich stets an dem Rufe der Badeorte, in denen er gerade praktizierte, mitbeteiligt und für Erfolge und Mißerfolge mitverantwortlich fühlte, eine gewisse Verletztheit nicht völlig unterdrücken konnte. Doch widersprach er der Mutter nicht ernstlich, sondern begnügte sich, mitder Tochter einen verständnisvoll lächelnden Blick zu wechseln, womit er seinen Standpunkt genügend und in würdiger Weise gewahrt zu haben meinte.

      Als er, von Sabine begleitet, ins Freie trat, betonte er nochmals die vollkommene Harmlosigkeit des Falles, worin sich Sabine mit ihm einverstanden erklärte; doch müßte man, wie sie hinzufügte, gewissen Zufällen, die bei ganz jungen Leuten freilich ohne Bedeutung seien, in vorgerückteren Jahren immerhin größere Aufmerksamkeit schenken; und darum hätte sie heute, insbesondere wegen der Abwesenheit ihres Vaters, sich verpflichtet gefühlt, nach dem Doktor zu schicken.

      »Der Herr Papa ist wohl auf einer Inspektionsreise?« meinte Doktor Gräsler.

      »Wie meinen Sie das, Herr Doktor?«

      »Auf einer Inspektionsreise durch das Revier?«

      Sabine lächelte. »Mein Vater ist nicht Förster. Das ist auch schon lange nicht mehr das eigentliche Forsthaus. Es heißt nur so, weil bis vor sechs oder sieben Jahren der Förster des fürstlichen Reviers hier gewohnt hat. Aber so wie man dasHaus hier noch immer das Forsthaus nennt, so nennen sie in der Stadt drin den Vater immer den Förster, obwohl er niemals in seinem Leben irgend etwas dergleichen gewesen ist.«

      »Sie sind das einzige Kind?« fragte Doktor Gräsler, während sie ihn, als verstünde sich das von selbst, unter den jungen Tannen auf dem schmalen Wege zur Straße hin begleitete.

      »Nein«, erwiderte sie. »Ich habe noch einen Bruder. Der ist aber viel jünger als ich, erst fünfzehn. Er läuft natürlich den ganzen Tag im Wald herum, wenn er daheim auf Ferien ist. Zuweilen schläft er sogar im Freien.« Und als der Doktor etwas bedenklich den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: »O, das macht nichts, das hab' ich früher auch manchmal getan. Nicht oft, freilich.«

      »Doch wohl nur ganz in der Nähe des Hauses,« fragte der Doktor leicht besorgt, »und« – setzte er zögernd hinzu – »als kleines Mädchen?«

      »O, nein, ich war ja schon siebzehn Jahre alt, als wir das Haus hier bezogen. Früher haben wir nicht in dieser Gegend gewohnt, sondern in der Stadt . . . in verschiedenen Städten.«

      Da sie sich so zurückhaltend vernehmen ließ, hielt es der Doktor für angemessen, nicht weiter zu fragen. Sie standen am Straßenrand. Der Kutscher war fahrbereit. Sabine reichte dem Doktor die Hand. Er hatte das Bedürfnis, noch ein Wort zu sagen. »Wenn ich mich nicht irre, sind wir einander schon einigemal im Städtchen begegnet?«

      »Gewiß, Herr Doktor. Ich kenne Sie auch schon lang. Freilich vergehen manchmal Wochen, ehe ich hineinkomme. Im vorigen Jahr habe ich übrigens einmal Ihr Fräulein Schwester gesprochen, ganz flüchtig, beim Kaufmann Schmidt. Sie ist wohl wieder mit Ihnen da?«

      Der Doktor blickte vor sich hin. Seine Augen trafen zufällig Sabinens Schuhe, und er schaute an ihnen vorbei. »Meine Schwester ist nicht mit mir gekommen,« sagte er. »Sie ist vor einem Vierteljahr gestorben, in Lanzarote.« Es war ihm weh ums Herz; doch daß er den Namen der fernen Insel aussprechen durfte, bereitete ihm eine keine Genugtuung.

      Sabine sagte »Oh« und weiter nichts. Nun standen sie eine Weile schweigend, bis Doktor Gräsler seine Züge zu einem etwas förmlichen Lächeln zwang und Sabinen die Hand reichte. »Gute Nacht, Herr Doktor,« sagte sie ernst. »Gute Nacht, Fräulein,« erwiderte er und stieg in den Wagen. Sabine stand noch eine kleine Weile, bis sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte, dann wandte sie sich zum Gehen. Doktor Gräsler blickte nach ihr zurück. Mit leicht gesenktem Kopfe, ohne sich umzuwenden, ging sie zwischen den Tannen dem Hause zu, aus dem ein Lichtstrahl über den Weg schimmerte. Eine Biegung der Straße, und das Bild war verschwunden. Der Doktor lehnte sich zurück und sah zum Himmel auf, der dämmerkühl mit spärlichen Sternen über ihm hing.

      Er dachte ferner Zeiten, junger, heiterer Tage, da ihm manches hübsche Wesen in Liebe angehört hatte. Zuerst fiel ihm die Ingenieurswitwe aus Rio de Janeiro ein, die den Dampfer, auf dem er als Schiffsarzt mitreiste, in Lissabon verlassen hatte, angeblich, um irgendetwas in der Stadt einzukaufen, und die trotz ihres bis Hamburg geltenden Billetts nicht wieder an Bord zurückgekommen war. Er sah sie noch vor sich, wie sie in ihrem schwarzen Kleid aus dem Wagen heraus, der sie vom Hafen zur Stadt hinausführte, ihm freundlich zuwinkte, und wie sie ihm an irgendeiner Straßenecke entschwand für alle Ewigkeit. Er dachte ferner der Advokatentochter aus Nancy, mit der er sich in St. Blasien, dem ersten Ort, wo er seine Badepraxis ausübte, verlobt hatte, die dann plötzlich mit ihren Eltern eines wichtigen Prozesses halber nach Frankreich zurückreisen mußte und ihm die Nachricht von ihrer Ankunft sowie jede andere bis zum heutigen Tage schuldig geblieben war. Auch des Fräuleins Lizzie dachte er, aus seiner Berliner Studentenzeit, das sich seinetwegen sogar ein wenig angeschossen, und erinnerte sich, wie sie ihm widerstrebend die rauchgeschwärzte Stelle unter der linken Brust gezeigt, und wie er doch keine Spur von Rührung, sondern nur etwas Ärger und Langeweile empfunden hatte. Er dachte auch der netten, häuslichen Henriette, die er durch viele Jahre, wenn er von seinen Schiffsreisen nach Hamburg heimkehrte, in ihrer kleinen, hochgelegenen Wohnung mit dem Blick über die Alster wiederfand, so heiter, so harmlos und so bereit, wie er sie verlassen – ohne daß er je erfahren oder sich nur ernstlich darum gekümmert, was sie in der Zwischenzeit getan und erlebt hatte. Noch mancherlei anderes ging ihm durch den Sinn, darunter einiges, was nicht sonderlich hübsch, und manches, was sogar in verschiedenem Sinne nicht unbedenklich gewesen war und wovon er heute gar nicht recht begriff, daß er sich überhaupt darauf hatte einlassen können; im ganzen aber blieb es doch traurig, daß die Jugend dahin und damit wohl auch das Recht verwirkt war, vom Leben noch etwas Schönes zu erwarten. Der Wagen fuhr zwischen Feldern hin, die Hügel ragten dunkel und höher als bei Tag, aus den kleinen Villen schimmerten Lichter her, auf einem Balkon lehnten stumm, enger aneinander geschmiegt, als sie es sich wohl bei Tageslicht erlaubt hätten, ein Mann und eine Frau. Von einer Veranda her, wo eine kleine Gesellschaft beim Abendessen saß, klang lautes Sprechen und Lachen. Doktor Gräsler begann Appetit zu verspüren, freute sich dem Abendessen entgegen, das er im »Silbernen Löwen« einzunehmen pflegte, und trieb den gemächlichen Kutscher zu größerer Eile an. Am Stammtisch, wo er die Bekannten schon alle versammelt fand, trank er heute ein Glas Wein mehr als gewöhnlich, weil ihm, wie er von früher her wußte, in einer solchen ganz unmerklichen Benommenheit das Leben irgendwie süßer und leichter zu erscheinen pflegte. Er hatte Anfangs die Absicht, von seinem heutigen Besuche im Försterhause zu erzählen; doch aus irgendeinem Grunde, der ihm nicht klar wurde, ließ er es sein. Der Wein versagte aber heute seine Wirkung. Doktor Gräsler erhob sich sogar melancholischer vom Tische, als er sich hingesetzt hatte und begab sich mit leichten Kopfschmerzen nach Hause.

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