Das Geheimnis der schwarzen Schatulle. Hanna HolthausenЧитать онлайн книгу.
Nicht genug damit, dass sie ihm keine seiner wirklich wichtigen Fragen beantwortet – jetzt scheint sie auch noch vor ihm wegzulaufen.
Am frühen Nachmittag kehrt Felicitas zurück in die Wohnung und legt einen Stapel Briefe ab. Sie hat nicht nur dem Rabbiner einen Besuch abgestattet, sondern war auch im Haus der Lagranges, um die Post abzuholen. Immer noch kommen Kondolenzbriefe. Der Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers geht Felicitas sehr nah, und es kostet sie einige Kraft, Pierre ihren Schmerz nicht spüren zu lassen und ihn nicht ständig an seinen Verlust zu erinnern.
An einem der vergangenen Abende hat er ihr anvertraut, dass er sich einfach vorstellt, bei Felicitas Ferien zu machen.
„Weißt du, ich mache einfach so lange bei dir Ferien, bis ich darüber reden kann. Aber noch bin ich nicht so weit“, war seine versteckte Bitte gewesen, als seine Tante wieder einmal behutsam versuchte, mit ihm über den Tod seiner Eltern zu reden.
„Aber irgendwann muss er reden, zumal die Beisetzung seiner Eltern noch bevorsteht. Die Untersuchungen des Absturzes dauern zwar noch an, aber lange wird der Termin der Beerdigung nicht mehr auf sich warten lassen“, denkt Feli, als sie ihre Tasche über die Stuhllehne hängt.
„Na, was hast du gemacht?“, fragt sie Pierre lächelnd, als der in die Küche kommt.
„Mich gelangweilt“, antwortet er kurz angebunden. Seine Unzufriedenheit über ihre Ausweichmanöver wird deutlich.
„Das können wir sehr leicht ändern“, meint Felicitas. „Wie wäre es mit einem Schwimmausflug?“
„Keine Lust“, grummelt er und wühlt teilnahmslos in der Post auf dem Tisch. Seine Finger ziehen aus dem Stapel einen feinen, cremefarbenen Umschlag, der an ihn adressiert ist. Pierre dreht in um und sieht nach dem Absender. Dann reißt er seine Augen auf.
„Der ist von meinem Großvater!“, ruft er und sieht Felicitas aufgeregt an. Felicitas gefriert das Lächeln im Gesicht.
Sie hat die Briefe einfach unbesehen in ihre Tasche gesteckt und ärgert sich jetzt darüber, versäumt zu haben, sie wenigstens kurz durchzusehen. Am liebsten würde sie ihm das Kuvert aus der Hand reißen und öffnen. Was kann der Mann nach so vielen Jahren der Ignoranz von seinem Enkel wollen? Sie ahnt nichts Gutes und hofft inständig, dass sie Unrecht hat. Ihre Augen folgen Pierres Fingern, die das Kuvert ungeduldig aufreißen und den Briefbogen entfalten. Jetzt klebt ihr Blick am Gesicht ihres Neffen, dessen Euphorie großem Unverständnis zu weichen scheint.
Pierres Hände lassen den Briefbogen sinken und er stützt sich unbewusst mit einer Hand am Küchentisch ab. „Sie werden nächste Woche beerdigt“, würgt er hervor und lässt sich von Felicitas den Brief aus der Hand nehmen. Was sie liest, übertrifft all ihre Befürchtungen und lässt sie auf einen der Küchenstühle fallen.
Pierre,
mit diesem Brief setze ich Dich über die Beisetzung Deiner Eltern am Montag den 13. August auf dem Friedhof von Lyon in Kenntnis. Am Samstag werde ich in Lyon eintreffen und Dir im Haus Deiner verstorbenen Eltern um 16 Uhr einen Besuch abstatten. Ich erwarte, dass Du Dich einem vernünftigen jungen Mann angemessen verhältst und weder dort, noch am Grab Deiner Eltern Tränen vergießt. Ich wünsche nicht, Deiner Tante zu begegnen und erwarte, dass sie sich während des Begräbnisses in gebührendem Abstand zu uns aufhält.
Als Dein gesetzlich bestimmter Vormund und Verwalter des Erbes Deiner Eltern betrachte ich es als meine Pflicht, Dir eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Da es meine Aufgaben nicht zulassen, Deinen Werdegang an Deiner jetzigen Schule angemessen zu verfolgen, habe ich Dich in einem Schweizer Internat angemeldet, in dem Du Dich eine Woche nach der Beisetzung Deiner Eltern, explizit am Samstag, den 18. August bis spätestens 18 Uhr einzufinden hast. Die Zugfahrkarte liegt bei. Mobiltelefone sind dort strikt verboten.
In der Zeit nach dem Begräbnis bis zu Deiner Abreise ins Internat wirst du wieder im Haus Deiner Eltern leben und Dich von Deiner Tante fernhalten. Eine Aufsicht wird Dir an die Seite gestellt, die Dir beim Packen und allen übrigen Notwendigkeiten behilflich sein wird.
Ich erwarte, dass Du meinen Wünschen in Deinem eigenen Interesse Folge leistest und den Abschied so gestaltest, dass mir keine Unannehmlichkeiten zu Ohren kommen.
Gustave Lagrange
Fassungslos starren sich Pierre und Felicitas an. In Pierres Gesicht kann man noch Zweifel darüber lesen, ob er den Inhalt des Schreibens richtig verstanden hat. Felicitas weiß, dass es darüber keine Zweifel gibt. Der steinerne Mann, wie sie und Camille ihn insgeheim immer genannt hatten, hat sich auch in weit fortgeschrittenem Alter nicht verändert, nicht ein bisschen. Kalt und ohne persönliche Anrede, klingt dieser Brief wie ein Dienstbefehl, der doch erstaunlicherweise handschriftlich verfasst ist.
Felicitas zittert und ist angestrengt bemüht, es vor Pierre zu verbergen. Sein Großvater scheint die Zeit bis zur Beisetzung seines Sohnes und seiner Schwiegertochter wirklich gut genutzt und sich alle Entscheidungsgewalt rechtlich gesichert zu haben. Sie selbst hingegen hat es angesichts der Bemühungen um Pierres Wohlbefinden versäumt, die dauerhafte Vormundschaft vor Gericht zu beantragen. Zu sicher wähnte sie sich mit der vorläufigen Vormundschaft, die ihr vom Jugendamt ausgestellt wurde. Nun sind die Würfel gefallen. Selbst, wenn es die Möglichkeit gäbe, die Entscheidung des Gerichtes anzufechten, würden damit nur schlafende Hunde geweckt. Daran mag Felicitas gar nicht erst denken.
Der Schatten der Vergangenheit hat sie eingeholt. Jetzt kann sie Pierre nicht mehr davor bewahren. Hilflos steht sie auf, geht auf Pierre zu und umarmt ihn. In diesem Augenblick wird er sich des Ernstes der Lage bewusst, reißt sich verzweifelt von ihr los und verlässt die Wohnung. Felicitas läuft zum Balkon und ruft nach ihm, doch er will sie nicht hören und rennt in Richtung Universität. Oft sind sie zusammen durch den Park gegangen, wenn er seine Tante an schulfreien Tagen in ihrer Mittagspause besucht hatte.
„Dorthin wird er laufen und seine Wut in den Boden stampfen“, hofft sie.
Pierre läuft und läuft, und auch, als er kaum noch Atem hat, kann er seine Schritte nur schwer bremsen. Nach fast eineinhalb Stunden Lauf brennen seine Muskeln. Dieses Brennen ist jedoch ein müdes Glimmen gegen den Schmerz in seiner Brust, in der ein loderndes Feuer tobt. Was für ein Mensch ist dieser Großvater?
„Ein Mensch? Nein, ein Tier!“, schreit Pierre durch den Park.
Einige Menschen schauen zu ihm herüber, aber er bemerkt die Blicke nicht, spürt den leichten Nieselregen nicht, der einsetzt, und sieht nicht, dass die Sonne langsam untergeht. Er läuft einfach weiter, grübelt, versucht sich Fragen zu beantworten, die nicht zu beantworten sind, und steht mit einem Mal wieder vor der Tür des Hauses, in dem er ein zweites Zuhause gefunden hat.
Felicitas betätigt den Türöffner ohne die Sprechanlage zu benutzen. Sie weiß, wer läutet, und öffnet Pierre weit die Wohnungstür, bevor sie sich in die Küche zurückzieht. Er soll selbst entscheiden, ob er reden möchte oder nicht – sie ist nur heilfroh, dass der Junge zurück ist.
„Feli, ich will in kein Internat! Ich will weiter meine Schule besuchen, meine Freunde treffen, Fußball spielen … Ich will hier bleiben!“
Völlig verschwitzt und außer Atem steht er in der Küchentür und sieht sie verzweifelt an.
„Komm, setz dich“, sagt sie und stellt einen Stuhl zurecht.
Pierre lässt sich darauf fallen und nimmt das Glas Mineralwasser, das sie ihm anbietet. Felicitas ist ebenso verzweifelt wie Pierre. Sie kann ihm nicht helfen und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll.
„Dein Großvater hat dafür gesorgt, sich um dich kümmern zu können und die Vormundschaft für dich erwirkt. Damit hat er mich meiner Verantwortung für dich enthoben“, versucht sie einen Anfang.
„Um mich kümmern, ja? Nennst du so was kümmern? Abschieben ist das! Warum lässt er mich dann nicht einfach weiter bei dir wohnen? Bisher war alles prima ohne ihn …“
Prima ist zwar die reinste Übertreibung,