Der andere Mann. Winfried WolfЧитать онлайн книгу.
mit den Studenten und schlief schnell ein.
5. Kapitel: Eine ganz normale Observation
Als er die Plastiktüte auspackte, fühlte er sich an seine Ausbildungszeit in Luckenwalde erinnert. Ein Leben lang spielen wir Theater, dachte er, und jetzt mache ich mich fertig für den letzten Akt. Er legte alles nebeneinander auf den Esstisch: den falschen Bart, die Klebemittel, den Peilsender. Er dachte an die kleine Mia, die hatte sich bei einer Faschingsveranstaltung der Abteilung mal einen falschen Bart auf die Oberlippe geklebt. Das ist jetzt eine Probe, hatte sie gesagt und ihn heftig geküsst, so heftig, dass ihr dann der Klebestreifen von der Oberlippe hing.
Gute Arbeit, hatte Genosse Zink die Attacke kommentiert, das nächste Mal bitte ich aber darum, Mann und Frau nicht zu verwechseln. Mit der Mia habe ich nicht lange etwas gehabt, der Dienst hat uns auseinander gebracht, was wohl aus ihr geworden ist? Er erinnerte sich an den Spruch eines Übungsleiters, den Namen hatte er vergessen. Denken Sie immer daran, Genosse: Die beste Versicherung gegen das drohende Chaos ist, alles ordentlich zu erledigen . Ja, das wollte er jetzt auch tun. Er hatte sich bei einem Kostümversand eine Bartkombination mit Kinnbart und Oberlippenbart aus Echthaar in einem grauen Farbton bestellt, die Packung enthielt auch einen Mastix Hautkleber. Er stellte sich vor den Badezimmerspiegel und versuchte, die dünne Folie, auf der die Haare eingearbeitet waren, auf seinem Gesicht zu befestigen. Er musste sie exakt an die natürlichen Koteletten und die Kiefer-, Ohren- und Lippenkonturen anpassen. Vor allem bei Letzteren musste er sorgfältig vorgehen, wer weiß, vielleicht wird er die Lippen zum Sprechen bewegen müssen. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, der Bart hielt. Er betrachtete sich längere Zeit im Spiegel. Darauf waren sie einmal trainiert worden, ein anderer zu werden. Man musste sich im Spiegel betrachten können und sagen: Das bin jetzt ich.
Er fuhr sich noch einmal über den falschen Bart, vergewisserte sich, dass alles am rechten Fleck war und löste dann vorsichtig die Klebestreifen von der Gesichtshaut. Allzu oft würde er das nicht machen können, aber zwei, drei Mal wird das Zeug schon halten.
Er kehrte zum Esstisch zurück und verstaute alles wieder in der Plastiktüte, die Bedienungsanleitung des Peilsenders würde er sich später genauer ansehen, vielleicht brauche ich ihn ja gar nicht, dachte er. Mit den Dingern musste man vorsichtig sein. Im Film sieht das ja immer toll aus. Der Detektiv braucht nur auf sein Handy zu schauen und schon weiß er, wo sich seine Zielperson aufhält. Er hatte sich einen Peilsender für Katzen und Hunde schicken lassen, das war weniger auffällig und sollte angeblich genauso funktionieren, wie ein GPS-Tracking für Menschen, nur mit dem Unterschied, das Letzteres verboten war und was verboten ist, wird überwacht, sagte er halblaut vor sich hin. Es hatte ihn amüsiert zu lesen, wie die Firma das Problem beschrieb: Es ist ein Horror eines jeden Halters einer Freigänger-Katze: Die Mieze kommt tagelang nicht nach Hause und man weiß nicht wo sie sich aufhält. Oder sie verschwindet sogar komplett - ist ihr etwas passiert? Wurde sie von jemandem mitgenommen? Wurde sie irgendwo eingeschlossen? Ja, diese Sorgen können einem ziemlich nahe gehen und so manche Stunde Schlaf kosten. Nicht wahr, Herr Prager? Wüssten Sie nicht manchmal auch gern, wohin sich Ihre Mieze begeben hat?
Er hatte sich eine Woche frei genommen, er musste ohnehin schauen, wie er vor seiner Verabschiedung noch seinen Resturlaub einigermaßen vernünftig unterbringen konnte. Eine Woche würde für die Observierung genügen. Schon am ersten Tag hatte er herausgefunden, dass beide Zielpersonen einem Beruf nachgingen.
Um 7.15 Uhr verließ der Gymnasiallehrer Prager mit einer braunen Aktentasche in der Hand das Haus. Frau Prager folgte eine Viertelstunde später. Beide benutzten sie ihr Auto, Herr Prager fuhr den schwarzen Q3, seine Frau einen roten A1. Das ist so wie es sein sollte, dachte er, der Mann nimmt das große, die Frau das kleine Auto.
Er folgte dem roten Wagen bis zur Schneider-Grundschule in Littenweiler. Die Schule lag mit dem Auto keine zehn Minuten von der Wohnung des Ehepaars entfernt. Frau Prager war also Grundschullehrerin, ihren Stundenplan würde man in Erfahrung bringen können.
Am zweiten Tag hatte er sich den Bart angeklebt, der Oberlippenbart genügte ihm fürs Erste. Kurz nach sieben war er auf seinem Posten. Die Pragers verließen wie am Vortag, fast auf die Minute genau, ihr Haus. Er wartete noch eine Viertelstunde. Auf der anderen Straßenseite ging ein älterer Herr mit einer Umhängetasche in der Hand die Straße hinunter, wenig später trotteten zwei Schulkinder an seinem Auto vorbei. Er zog den blauen Arbeitskittel über, nahm die Werkzeugtasche vom Rücksitz und stieg aus dem Auto. Auf der Straße war niemand zu sehen. Er warf einen Blick auf die Fenster des Nachbarhauses und ging dann schnellen Schritts auf die Villa der Pragers zu. Das Gartentor war nicht abgeschlossen. Er umrundete das Haus und warf einen prüfenden Blick auf die graue Eisentür, die an der Rückseite des Hauses zum Garten hinaus ging. Das war der Zugang zur Einliegerwohnung. Das Türschloss bot keinen Widerstand. Da hatten die Leute so tolle Häuser und so alte Türen, vorn die Pracht und hinten ..., ach ja, da hatte sich nicht viel geändert.
Er holte die Gummihandschuhe aus seiner Werkzeugtasche und streifte sich die mitgebrachten Füßlinge über die Schuhe. Er sah keinen Grund, sich in der Einliegerwohnung, länger als nötig aufzuhalten. Einige Möbel waren mit weißen Tüchern abgedeckt. Die Tür zum Treppenaufgang war nicht verschlossen, keine Tür war in diesem Haus verschlossen. Er zog sein kleines Notizheftchen heraus und zeichnete sich die Lage der Räume ein. Im Obergeschoß befand sich die eigentliche Wohnung des Ehepaars. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. In der Küche fand er schnell, was er suchte. Das würde zunächst nicht weiter auffallen, wenn hier etwas fehlte. Das Arbeitszimmer musste Frau Prager gehören, das sah man unschwer an den bunten Büchern. Einen Terminkalender konnte er auf dem Schreibtisch nicht entdecken, der steckte vielleicht im Computer oder in ihrem Handy. Er nahm sich einige sauber beschriftete Leitzordner aus dem Regal: Die Ordner mit den Titeln Dokumente Rudolf und Dokumente Hannah enthielten alles, was er brauchte. Schnell das Wesentliche zu finden, war ihm eine geläufige Übung. Er musste nicht viel mit dem Handy fotografieren, was ihn am meisten interessierte, konnte er sich merken, aber er fand im Arbeitszimmer von Pragers Frau nicht alles, was er suchte und ihm war schnell klar, dass er eigentlich erst die Hälfte der Pragerschen Welt in Augenschein genommen hatte.
Bevor er den Raum verließ, stellte er alles wieder an seinem angestammten Platz. Er warf einen kurzen Blick ins Badezimmer, notierte sich den Namen des Männerparfüms und ging noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Aus dem Kleiderschrank mit den Männersachen nahm er ein blau-weiß gestreiftes, kurzärmeliges Sommerhemd, eine hellbeige Leinenhose sowie eine Garnitur Unterwäsche, wozu letztere nötig sein würde, wusste er noch nicht. Er verstaute die Kleidungsstücke in seiner Tasche, dann stieg er die Treppe zum Dachgeschoß des Hauses empor.
Hier hatte der Hausherr also sein Domizil, das sah man sofort. Arbeitszimmer und Bibliothek und, was für ein Luxus, ein eigenes Bad und ein Zimmer, das sowohl Schlafzimmer als auch Abstellraum war. Auf dem wuchtigen Schreibtisch lag ein aufgeschlagener Terminkalender. Die meisten Angaben bezogen sich auf schulische Ereignisse. Nächste Woche hatte Herr Prager am Donnerstag einen Elternabend eingetragen, am Dienstag Studenten und am Freitag Theater . Er suchte nach regelmäßig wiederkehrenden Einträgen, da war nichts, was sich wiederholte, doch, zweimal hatte Prager jeweils an einem Donnerstag Jogging Hannah eingetragen. Na also, grinste er, das ist doch was.
Von unten waren plötzlich Geräusche zu hören; jemand schloss die Haustür auf, kurz darauf hörte er Musik und das Zuschlagen von Türen. Er schlich auf leisen Sohlen in Pragers Bibliothek und schaute aus dem Fenster, das zur Straße wies. Vor dem Haus stand ein weißer Kleinwagen, vermutlich das Auto der Putzfrau. Ich hätte länger warten sollen. Im Flur stellte er sich ans Geländer des Treppenaufgangs und horchte nach unten. Er dachte daran, wie er einmal in der Speisekammer der elterlichen Wohnung von der vorzeitigen Heimkehr der Mutter überrascht wurde. Er hatte einfach nur still darauf gewartet, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, den Vorratsraum zu verlassen. Die Mutter stand an der Spüle, als er in ihrem Rücken geräuschvoll die Klinke der Küchentür drückte und ihr erzählte, dass er gerade im Garten gewesen sei. Hätte er damals mehr Phantasie besessen, hätte er später sagen können: Dieses Ereignis ließ in mir den Plan reifen, einmal Einbrecher in höherem Auftrag zu werden, der wunderbare Beginn einer Agentenkarriere.
Als