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Flucht aus dem Morgengrauen. Marc LindnerЧитать онлайн книгу.

Flucht aus dem Morgengrauen - Marc Lindner


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wie Zuschauer bei ein­em Straßenrennen, und ich der Läufer. Endspurt, die Menge jubelte, doch ich konnte sie nicht hören. Nur aus der Ferne, wie ein auflebender Wind. Tau­send Stimmen, und noch mehr Gefühle. Und alle drangen sie auf mich ein. Ich konnte die Zielgerade sehen. Und dann wurde ich auch noch eingeholt.

      Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und passte seinen Schritt dem meinem an.

      «Wusste doch, dass ich dich heute sehen würde», grüßte mich Sebastian. Er war in meiner Vertiefungsrichtung. Wirklich gut kannten wir uns nicht. Während den Semestern sahen wir uns nur zufällig. Das heute war nur auf den ersten Blick Zufall, denn wir hatten Mat­rikel­nummern, die nicht weit auseinanderlagen, sodass wir bei fast allen Klausuren nebeneinander gesessen hatten. Und so hatten wir uns kennen­gelernt. Natür­lich reichte das nicht aus, um sich richtig anzufreunden. Wir waren beide etwas nervös und versuchten dies mit belanglosem Reden zu vertreiben. Aufgrund der vorherrschenden Atmosphäre bekam der jeweils andere nicht viel mit, oder vergaß es rasch. Doch wir waren uns sympathisch und so hatten wir oft den Schlussspurt gemeinsam in Angriff genommen. Nach den Examen trennten sich unsere Wege. Unsere Zusammenkunft hatte immer einen unan­ge­nehmen Bei­ge­schmack, vielleicht war das der Grund, warum nie mehr aus dieser Freundschaft geworden war.

      «Immer wieder ein Vergnügen», erwiderte ich leicht ironisch.

      Sebastian lachte und klopfte mir abermals auf die Schulter, um mir zu zeigen, dass er mich richtig verstanden hatte.

      Über dieses Geplänkel kamen wir nie hinaus. Es war einfach die falsche Zeit, und der falsche Ort. Zu viele Gedanken beherrschten uns und wir wollten nur ab­schalten. Da kamen wir uns gerade recht. Uns beiden war das bewusst und so nahmen wir unser Verhalten nie als unfreundliches Distanzieren auf. Wir waren Lei­dens­genossen. Immer zur rechten Zeit da, wie ein Schatten, der den Klausuren anhaftete.

      Am Hauptgebäude angelangt stellten wir fest, dass wir die Ersten waren. Wir wollten die Ruhe in uns wahren, bloß nicht zu spät kommen, nicht durch schnelles Herbeieilen unser Blut in Wallung bringen. Ein letztes Mal in Ruhe Luft holen. Es hatte etwas Angenehmes an sich, als Erster hier zu sein, denn so sah man jene, die noch kamen. Man sah, wie sie aufgeregt umher blickten, als wären sie zu spät. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie beruhigte es mich immer, die anderen zu beobachten. Es lenkte mich von mir ab, wenn ich sah, was andere durchmachten, wie sie damit umgingen, getestet zu werden. Mit dieser, meiner Eigenart, hatte ich es immer geschafft die Klau­suren gelassen zu beginnen. Nur in dem Moment, als wir hinein gerufen wurden machte sich in mir ein seltsames Prickeln im Bauch breit.

      Von den Momenten, oder besser von den Stunden, die dann folgten, bekam ich nie viel mit. Nachdem die Klausuren ausgeteilt waren, funktionierte ich. Wie ein Uhrwerk. Ich tauchte ein, in die Welt der Formeln. Sie überfluteten mich und ich ertrank. Heute ein letztes Mal, danach konnte ich endlich leben. Frei sein, von all diesen anmaßenden Formeln. Endlich die Welt verstehen, so wie sie wirklich war und nicht nur, wie sie auf dem Papier schien.

      Dreieinhalb Stunden, solange dauerte es diesmal, doch die Zeit bedeutete mir nichts. Kaum war ich eingetreten, gab ich das Papier auch schon wieder ab. Wenig­sten kam es mir so vor.

      Leicht betäubt von diesem vielen Denken und müde vom Schreiben verließ ich den Hörsaal. Die Klausur hatte ich bereits vergessen. Sie lag hinter mir und ich wollte mich nicht wieder umdrehen. Nicht einmal stehen bleiben konnte ich. Die Anderen würden Fragen stellen, Erin­nerungen wachrufen. Doch die wollte ich nicht mehr.

      Als ich draußen ankam, empfing mich eine andere Stadt, wohl noch dieselbe, aber nicht die gleiche, nicht für mich. Langsam ging ich Richtung Altstadt und ich sah die Häuser. Sie standen nicht mehr da und jubelten. Kein Rennen mehr. Und ich schlenderte gemütlich drauf los. Wie ein Trunkener, nur meine Schritte waren fest und sicher. Ich sah, wie die Leute an mir vorbei liefen, alle in Eile. Sie konnten mir nur noch ein müdes, mitleidiges Lächeln abverlangen. Doch ich betrachtete sie weiter. Ganz in Ruhe, während ich weiter ging. Sie waren blind, und suchten, es war merkwürdig und mir noch nie so richtig aufgefallen, aber jetzt sah ich es. Ein Mann kam mir entgegen. Sein offener Mantel fing den Wind und er telefonierte aufgeregt mit seinem Handy. Mit finsterer Miene wich er den Passanten aus. Das musste ich nicht, ich ließ mich treiben, vorbei an den Schau­fenstern der Einkaufs­straße. Doch mein Blick drang nicht durch, er blieb draußen und fiel auf einen Eisverkäufer unter dem dunkel bewölkten Himmel. Der hatte Mut, dachte ich. An ihm vorbei lief eine Frau mit Kinderwagen. Sie wirkte angespannt, während sie versuchte ein Tuch, das im Wind tanzte, oberhalb ihres Neuge­borenen fest zu spannen. Neben ihr zupfte ein kleiner Junge, der kaum gehen konnte, an ihrem Hosenbein, und weinte. Er wollte wohl ein Eis, doch die Mutter hatte kein Verständnis dafür, nur der Eisverkäufer lächelte ihm freundlich zu.

      Das alles war für mich Leben. Keine Regeln, keine die man sehen und vor allem keine, die man aufschreiben konnte. Freiheit, ich sah sie, oben am Himmel in den dicken und doch schwebenden Wolken. Irgendwie hatte ich das Gefühl als könnte ich nun nach ihnen greifen. Doch ich tat es nicht. Allein das Wissen über diese Möglichkeit reichte mir. Wo flogen sie wohl hin, diese Wolken? Frei sein. Einfach nur fliegen. Das musste doch schön sein.

      Die meisten hier waren Frauen, fiel mir auf. Mit ihrem Blick für alles. Ständig blick­ten sie von einer Straßenseite zur anderen. Manche mit Einkaufstüten, manche ohne, aber alle trugen sie eine Handtasche mit sich, auch wenn sie diese sichtlich störte. Dann musste ich immer lachen. Freiheit. Was das wohl ist? Ich dachte nach, und sah mir die Leute an. Wohl der Entschluss, sie sich nehmen zu dürfen. Deshalb rannten sie alle so. Hatten keine Zeit, keine Ruhe. Freiheit. Über mir, die Wolken hatten auch nicht mehr lange Zeit, bald würde es Regen geben.

      Und ich freute mich, alles würde sich ändern, endlich ein Neuanfang.

      Doch ich wurde auf einmal müde und senkte meinen Blick. Unter mir schlich­en sich langsam Pflastersteine hinweg. Mit jedem Schritt entspannte sich mein Körper mehr und ich konnte mich wieder treiben lassen. Die Altstadt war richtig bequem zum Schlendern, keine großen Flächen, die einen gefangen hielten, nur kleine, die einen immer weiter reichten. Man reiste viel schneller so, immer weiter und es gab kein Halten, keine Pausen. Nur eintauchen in diese be­rühr­­ungs­lose Ruhe. Ich blickte mich nicht mehr um und schob den Moment, in dem ich aufschauen wollte, vor mir her.

      Ein Mann eilte an mir vorbei und lief mich fast über den Haufen. Groß und stäm­mig war er, und ich bekam die Wucht zu spüren, als unsere Schultern an­ein­ander prallten. Völlig überrascht drehte ich mich um, doch ich sah nur noch den breiten Rücken des Fremden, gehüllt in einen langen schwarzen Regen­mantel. Merkwürdige Gestalt war das. Und so schnell. Sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich umzudrehen. Und als ich ihm noch einige Blicke schenkte, bevor er in der Masse unterging, glaubte ich nicht, dass er mich überhaupt wahr­genommen hatte, so eilig hatte er es. Ich war ihm nicht böse, erwartete nicht einmal eine Entschuldigung, denn wir hatten wohl beide nicht acht­gegeben. Er hatte zu wenig Zeit und ich zu viel. Wir lebten in zwei Welten, da konnte man schon mal eine Begegnung versäumen. Ich lächelte ihm hinterher, wollte mich irgendwie von ihm verabschieden, auch wenn er es nicht sehen konnte.

      So viel passierte in der Stadt und bald hatte ich ihn vergessen, genauso wie die Schaufenster, die an mir vorbei huschten, sie waren für mich leer. Dunkel er­schienen sie, nichts was ich sehen wollte, da waren mir die Menschen lieber. Wie ein riesiger Schirm schwebte die Regenfront über mir. Dankbar kleidete ich mich in den Mantel, den die Menschen mir darboten. Herrlich warm war er, leicht windig ab und an, aber das nahm ich gerne in Kauf. Ich behielt nur die an­ge­nehmen Empfindungen für mich, die anderen überließ ich der Stadt und der Verdammnis des Vergessens.

      Wieder sah ich denen zu, die mir entgegen kamen. So viele Geschichten und ich konnte nicht genug von ihnen bekommen. Jetzt hatte ich die Schule hinter mir und las nur noch, was mir gefiel. Jene Bücher enthielten keine Formeln mehr, davon hatte ich genug. Nur die Geschichten, die das Leben schreibt, wollte ich lesen, geschrieben in den Gesichtern der Passanten. Alles Kurz­geschichten‚ aber reich an Beschreibungen, voller Gefühle. Da konnte man richtig ein­tauchen und mitfühlen, nicht nur denken, und vor allem gab es keine Regeln. Sicherlich waren einige Gesichter leer, aber dann blätterte ich weiter. Meine Bib­liothek hatte keine Grenzen mehr. Ich war frei, wie ein Vogel,


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