Eine übereilte Heirat. Historischer Roman. Catherine St.JohnЧитать онлайн книгу.
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Eine übereilte Heirat. Historischer Roman
Catherine St. John
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2015 Catherine St. John
ISBN 978-3-7375-5048-2
I
Vor dem Fenster dehnte sich eine weite, sanft gewellte Landschaft, die sich an diesem trüben Novembertag nicht gerade von ihrer besten Seite zeigte: Schwarz reckten die kahlen Bäume und Sträucher ihre Äste in die Luft, der Boden war feucht und matschig von geschmolzenem Raureif und dem Nieselregen der letzten Tage, und selbst die Buchenhecken, die ihr Laub ja noch nicht abgeworfen hatten, wirkten tot und verdorrt. Die vorherrschende Farbe war, soweit man blickte, grau: Grau waren die Hügel, die sich in der Ferne verloren, grau war der Himmel, der irgendwo im leichten Nebel nahtlos in den Boden überging, grau wirkten – obwohl sie es nicht waren – die Häuser und Hütten, die vereinzelt sichtbar waren. Kein lebendes Wesen war zu erblicken, das der Aussicht vielleicht etwas Farbe hätte verleihen können – man konnte glauben, die Welt sei ein Kupferstich, den man vergessen hatte zu kolorieren.
Sie schauderte und kehrte dem Fenster nachdrücklich den Rücken, nicht ohne unmutig zu seufzen. Dieses Wetter konnte einem wirklich die Stimmung verderben! Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass man dem Wetter gar nicht so viel Schuld daran beimessen musste: Das Gefühl, einen entsetzlichen Fehler begangen zu haben, genügte vollkommen, um so niedergeschlagen zu sein, wie sie sich momentan fühlte.
Wahrscheinlich hatte sie sich ihr ganzes Leben verpfuscht – durch eine spontane Entscheidung! Und nun saß sie hier in diesem baufälligen und zugigen Schloss in der Einöde von Kent und fragt sich ernsthaft, ob sie von Sinnen gewesen war – oder ob ein boshaftes Schicksal ihr diese Suppe eingebrockt hatte.
Ärgerlich scharrte sie in der spärlichen Glut des Kamins herum, doch das Feuer wollte einfach nicht so brennen, dass es die überall spürbare feuchte Kälte hätte vertreiben können. Schließlich gab sie es auf und setzte sich auf eines der bequemen, aber arg abgeschabten Sofas, die vor dem Kamin standen. Deprimiert fuhr sie mit der Hand über den verblichenen Stoff – gewiss waren diese Sofas seit den Rosenkriegen nicht mehr frisch bezogen worden! Wenn man sich hier im Morgenzimmer umsah, sollte man wahrhaftig nicht glauben, dass sie in eine der reichsten Familien des Königreiches eingeheiratet hatte. Wie das eigentlich alles zugegangen war, hatte sie bis jetzt noch nicht ganz verarbeitet, da alles so schnell und überraschend passiert war.
Angefangen hatte alles vor etwa sechseinhalb Wochen in London - erst vor sechseinhalb Wochen?
Sie hatte mit ihren Eltern einen Ball besucht, auf dem irgendein Unglücksrabe ihrem Vater, dem Earl of Weyhill, den jungen Lord Simon de Torcy vorgestellt hatte. Der Earl fand den jungen Mann recht sympathisch und machte ihn seinerseits mit Lady Weyhill und seiner Tochter, Lady Victoria Castleton, bekannt. Victoria hatte den hochgewachsenen Lord Simon fasziniert betrachtet, so fasziniert, dass sie vergaß, auf seine höfliche Frage nach ihrem Wohlergeben zu antworten und erst durch einen leichten Stoß ihrer Mutter wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Noch nie hatte sie so sehr das Gefühl gehabt, ihrem Idealmann gegenüberzustehen, obwohl sie doch immerhin schon zwanzig war und seit zwei Jahren offiziell in Gesellschaft ging.
Von den blonden, à la Brutus frisierten Locken bis zu den Spitzen seiner spiegelblanken Hessenstiefel sah Lord Simon genauso aus, wie sie sich stets den Mann ihrer Träume vorgestellt hatte; sein eleganter schwarzer Abendanzug saß ihm so angegossen, dass man daran sofort den erstklassigen Schneider erkannte, doch sein Erscheinungsbild blieb dabei eher schlicht – er schien der Tradition Mr. Brummells zu folgen und nicht den Extravaganzen jüngerer Dandies zu huldigen.
Sie stotterte etwas Nichtssagendes und spürte zu ihrem Ärger, dass sie wie eine kleine Debütantin errötete. Er musterte sie aufmerksam, beugte sich galant über ihre Hand und lächelte sie sodann leicht an, was seinem kühlen Gesicht überraschend viel Wärme verlieh. Sie akzeptierte seine Hand für den nächsten Tanz und ließ sich, immer noch verwirrt von den heftigen Gefühlen in ihrem Inneren, aufs Parkett führen. Während des Walzers zermarterte sie sich vergeblich den Kopf nach einem passenden und unverfänglichen Gesprächsthema, doch ihr wollte nichts einfallen – ausgerechnet ihr, die ihr Vater stets gelobt hatte, weil sie es bei solchen Gelegenheiten so gewandt verstand, auch den schüchternsten Gast aufzutauen und zum Plaudern zu bewegen! Er schien jedoch auch nicht gerade vor Einfällen zu sprühen, und so drehten sie sich in verlegenem Schweigen rund um den Saal. Als die letzten Takte verklungen waren, führte Lord Simon sie artig zu ihrer Mutter zurück, küsste ihr erneut die Hand und versicherte ihr mit seltsam brüchiger Stimme, es sei ihm ein großes Vergnügen gewesen…
Victoria hätte vor Ärger zerspringen mögen: Nun hatte sie einen Mann getroffen, der all das verkörperte, was sie sich erträumte – und sie blieb stumm und schüchtern wie ein kleines Mädchen! Gewiss hielt er sie jetzt für schrecklich langweilig und kam nie wieder auf sie zu!
*
Die Kaminuhr schlug elf und riss Victoria aus ihren Erinnerungen. Sie erhob sich langsam, trat zum Fenster und blickte hinaus, doch nichts hatte sich dort verändert. Ach, könnte sich doch die graue Spätherbstszenerie draußen durch irgendeinen Zauber in die Brook Street und dieses schäbige Zimmer in ihre eigenen gemütlichen Räume im Hause ihrer Eltern verwandeln! Wie gerne wäre sie wieder zu Hause gewesen, anstatt hier, wo nichts so war, wie sie es sich vorgestellt hatte!
Vielleicht konnte man sagen, dass die englische Außenpolitik schuld daran war, dass sie so überstürzt einen Mann geheiratet hatte, den sie überhaupt nicht kannte: Hätte Papa nicht plötzlich zu dieser albernen Konferenz gemusst, dann wäre sie heute noch mit Simon verlobt und könnte sich alles noch einmal in Ruhe überlegen; wäre Papa nicht nach Stockholm beordert worden, hätte sie ebenfalls noch genügend Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken; hätte – aber sie war ehrlich genug, ihren Anteil an den Geschehnissen auf sich zu nehmen: Hätte sie selbst nicht so unüberlegt Simons Antrag angenommen, dann hätte sie ihre Eltern erst nach Aachen und dann nach Schweden begleitet, was gewiss sehr viel aufregender gewesen wäre als das monotone Leben auf Schloss Lynham.
Ach, was nutzte es, zu überlegen, was alles hätte sein können! Nun war sie jedenfalls hier und langweilte sich schier zu Tode – an der Seite eines Mannes, der ihr auswich, wo er nur konnte. Wäre sie nur nicht so unüberlegt diese Verbindung eingegangen!
Sie presste ihre Stirn an die kühle Fensterscheibe und spürte den leisen Luftzug, der durch die Ritzen drang. Natürlich! Lynham mochte ja, wie sie Simons kargen Bemerkungen entnommen hatte, aus der Zeit der ersten Tudors stammen, aber was half einem das, wenn nicht einmal die Fenster dicht waren? Sie hielt sich ja auch nur deshalb in dem kleinen Morgenzimmer auf, in das niemand aus der Familie sonst je kam, weil es infolge seiner geringen Größe wenigstens einigermaßen heizbar war. Die Herzoginwitwe hatte ihr zwar versichert, sie werde sich bald an die Kälte und den ewigen Zug gewöhnen, ihr sei es anfangs genauso gegangen, aber Victoria, die in einem modernen, bequem heizbaren Stadthaus in London aufgewachsen war und auch bei Auslandsaufenthalten mit ihren Eltern nie auch nur den geringsten Komfort vermisst hatte, konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Ihre Schwiegermutter saß täglich fröhlich im Salon, den auch das größte Feuer nicht erwärmen konnte, und speiste jeden Abend, ohne mit der Wimper zu zucken, in dem riesigen, halbdunklen und eisig kalten Speisesaal; Simon, der hier aufgewachsen war, schien ebenfalls gegen Temperaturschwankungen unempfindlich zu sein, doch Victoria schien es, als sei sie seit ihrer Ankunft aus dem Frösteln nicht mehr herausgekommen. Schon jetzt schauderte sie bei dem bloßen Gedanken an das Dinner und wickelte sich enger in den warmen Schal, den sie über ihrem grauen Wollkleid trug. Grau war absolut nicht ihre Farbe, es machte sie blass und kränklich aussehend, doch sie trug es als Tribut an die Halbtrauer, die in diesem Haus immer noch herrschte. Außerdem, dachte sie bitter, war es ohnehin gleichgültig, welche Farben sie trug – für wen sollte sie sich vorteilhaft herausputzen? Simon würde es auch nicht bemerken, wenn sie sich vom Dachboden einen der altmodischen Reifröcke holte und ihn, mit grellroter Seide drapiert, trüge. Er würde überhaupt nichts bemerken, denn er glänzte ja, soweit er nur konnte, durch Abwesenheit. Warum nur hatte er sie geheiratet?
Sie