Eine übereilte Heirat. Historischer Roman. Catherine St.JohnЧитать онлайн книгу.
Zu ihrer großen Überraschung schien Lord Simon durch ihr schüchtern-verwirrtes Benehmen auf dem Ball nicht im Geringsten abgestoßen zu sein, sondern lief ihr in der Folge beinahe täglich über den Weg. Sein Benehmen erschien ihr irgendwie merkwürdig, doch das tat ihrer von Tag zu Tag wachsenden Verliebtheit leider keinen Abbruch. Mit einem Gemisch aus Ärger und Faszination registrierte sie seine sonderbaren Aufmerksamkeiten: Er sprach wenig mit ihr, bat sie gelegentlich zum Tanz, hielt ihr höflich die Türen auf, wenn er sie bei ihren Besorgungen traf (was so häufig passierte, dass Victoria der Verdacht beschlich, er lauere ihr auf) und neigte weiterhin dazu, sie prüfend zu mustern, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Allerdings war das weniger oft der Fall, als er wohl annahm, denn Victoria entwickelte sehr rasch eine beachtliche Fähigkeit darin, ihn aus dem Augenwinkel so zu beobachten, dass einem zufälligen Betrachter nichts davon auffiel und auch Simon selbst sich völlig sicher fühlte. Seine forschenden Blicke bestärkten sie in der Hoffnung, dass auch sie ihm nicht ganz gleichgültig war, doch blieb sein Benehmen weiterhin rätselhaft, und Victoria hätte nicht sagen können, was er wohl empfand.
Mit ihrer Mutter plauderte er Unverbindliches über die Londoner Gesellschaft, mit ihrem Vater unterhielt er sich ernsthaft und – wie der Earl beifällig bemerkte, recht kenntnisreich - über die Probleme Europas drei Jahre nach der Verbannung des Korsen, die zweifelhaften Chancen der Heiligen Allianz und die Politik Lord Castlereaghs. Er eroberte sich rasch einen Platz als angenehmer, aber nicht allzu intimer Bekannter der Weyhills; deshalb war Victoria vollkommen überrascht, als ihr Vater ihr eines Tages mitteilte, er habe einen Antrag für sie erhalten – und zwar von Simon de Torcy.
„Ist das dein Ernst, Papa?“, fragte sie fassungslos.
„Mich hat es auch ein wenig erstaunt“, gab Lord Weyhill zu. „ich wusste gar nicht, dass ihr schon so vertraut miteinander seid?“
„Das sind wir auch gar nicht“, meinte Victoria nachdenklich. „Mir hat er jedenfalls noch nicht die geringste Andeutung gemacht!“
„Nun“, sagte ihr Vater, „ich habe mich vor einigen Tagen vergewissert. Lord Simon ist der Bruder des gegenwärtigen Duke of Ashford, sein Vater starb erst vor einigen Monaten. Die Familie ist immens reich und bewohnt ein recht bekanntes, aber soweit ich erfahren habe, etwas vernachlässigtes Schloss in Kent. Sie leben recht zurückgezogen. Gegen die Partie wäre nichts einzuwenden, aber es fragt sich natürlich, ob du damit einverstanden bist? Wenn nicht, nehmen wir dich selbstverständlich gerne mit.“
„Mitnehmen? Wohin denn?“
„Ach, hat deine Mutter dir noch nichts gesagt? Ich bin an die Botschaft in Stockholm berufen worden, aber vor nächstem Januar müssen wir wohl nicht dort eintreffen.“
Victoria kicherte, sofort abgelenkt. „Stockholm? Dort haben sie jetzt einen neuen König, nicht wahr? Ist das nicht dieser Franzose, der „mort aux rois“ auf dem Arm tätowiert hat?“
Lord Weyhill lachte: „Genau! Was du dir immer für Absonderlichkeiten merkst! Du hast ganz Recht, Carl Johan ist ja ein ehemaliger Offizier Bonapartes, der sich dann aber gegen den Korsen gewendet hat. Er soll etwas eigenwillig sein; wir werden sehen, wie sich das auf die Beziehungen zu England auswirkt. Auf jeden Fall scheint die Arbeit dort einiges Fingerspitzengefühl zu verlangen – das ist genau die Aufgabe, die mir Freude machen wird. Willst du nicht doch lieber mit uns kommen, anstatt diesen Lord Simon zu heiraten?“
„Ich weiß nicht recht“, grübelte seine Tochter.
„Also, ich würde dir abraten, ihn zu nehmen. In Stockholm lernst du bestimmt eine Menge netter junger Herren kennen und es wird sicher eine amüsante Zeit für dich und deine Mutter. Du wirst dich doch nicht stattdessen auf dem Lande vergraben wollen?“
Dieser Rat ihres Vaters weckte sofort Victorias Widerspruchsgeist. Außerdem gefiel ihr der Gedanke an die vielen jungen Männer, von denen ihr Vater so hoffnungsfroh gesprochen hatte, überhaupt nicht – der rätselhafte Lord Simon beherrschte ihr Denken derartig, dass sie sich ein tendre für einen anderen überhaupt nicht vorstellen konnte.
„Ach, so langweilig wird es bestimmt nicht werden“, meinte sie deshalb optimistisch. „Lord Simon hat doch sicher eine nette Familie, und gewiss gibt es einen regen Verkehr mit den Nachbarn. Außerdem“, sie lächelte spitzbübisch, „wer hätte schon gehört, dass man sich als junge Ehefrau langweilt? Gewiss gibt es dort eine Menge Neues für mich zu erfahren und zu lernen. Ich kann mir das eigentlich recht amüsant denken – genauso amüsant wie einen Aufenthalt in Stockholm.“
Lord Weyhill warf seiner Tochter einen zweifelnden Blick zu. „Ich kenne dich gar nicht wieder! Meine Tochter, die auf dem internationalen Parkett zu Hause war, will sich von ihrer Schwiegermutter in die Pflichten einer Gutsherrin einführen lassen! Meine Liebe, dafür gibt es nur eine Erklärung: Du bist verliebt!“
Er kicherte spöttisch, als er sah, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und fuhr maliziös fort: „Gut, er ist ja ein hübscher Bengel, das lässt sich nicht leugnen. Aber du kennst ihn noch nicht gerade sehr lange. Er könnte sich als Langweiler entpuppen – hast du davor keine Angst?“
„Papa, bitte! Schließlich habe ich nicht vor, ihn morgen zu heiraten! Während der Verlobungszeit kann ich ihn ja noch besser kennenlernen. Ich mag ihn – nun ja, bitte, wenn du willst: Ich bin in ihn verliebt, und er scheint mich doch auch zu mögen, sonst hätte er mir wohl kaum einen Antrag gemacht! Das sind doch recht gute Voraussetzungen. Ich weiß genau, dass sehr viele Ehen unter weniger günstigen Auspizien geschlossen werden und doch recht glücklich ausfallen. Außerdem kann ich die Verlobung immer noch lösen, falls sich Lord Simon in irgendeiner Hinsicht als unerträglich entpuppen sollte.“
Diese leichtfertige Bemerkung trug ihr einen erschrockenen Blick ihres Vaters ein: „Victoria, ich bitte dich, mach mir nur keinen Skandal!“
„Keine Angst, Papa, du kennst mich doch. Auch das würde ich sehr diskret abwickeln, das verspreche ich dir.“
„Nun, dann ist es ja gut. Vielleicht solltest du nun deine Mutter aufsuchen und ihr von der Angelegenheit Mitteilung machen. Sie kann dir auch sicher besser raten als ich.“
„Das werde ich tun, Papa.“ Sie küsste ihn auf die Wange und verließ die Bibliothek. Lord Weyhill griff nach seiner Zeitung, las aber nicht darin, sondern starrte ins Leere. Der Gedanke, seine muntere Tochter so bald zu verlieren, behagte ihm gar nicht – aber das war schließlich der Lauf der Welt.
Victoria suchte ihre Mutter auf und trug ihr die Sachlage vor. Lady Weyhill war auf der einen Seite natürlich erfreut, von einem mehr als angemessenen Antrag für ihre Tochter zu hören, auf der anderen Seite aber lauschte sie der von Victoria vorgebrachten Beschreibung von Lord Simons eigentümlichem Benehmen mit Kopfschütteln und gab schließlich zu bedenken, das Ganze sehe ihr sehr danach aus, als suche der Lord eine mariage de convenance; sein sprödes Verhalten lasse eigentlich keinen anderen Schluss zu. Victoria solle sich reiflich überlegen, ob sie eine solche Verbindung wünsche, schließlich sei sie wohlgeboren, wohlhabend und hübsch genug, um etwas Besseres finden zu können. Sollte sie aber Lord Simons Antrag in Erwägung ziehen, so habe sie zu bedenken, dass sie ihr Verhalten dem ihres zukünftigen Mannes anzupassen habe.
„Was meinst du denn damit, Mama?“
„Nun, wenn Lord Simon dir gegenüber so zurückhaltend bleibt, dann doch deshalb, weil er in dir keine unangebrachten Gefühle wecken will. Deshalb solltest du auch keines dieser unangebrachten Gefühle zur Schau tragen. Verhalte dich genauso kühl wie er, damit du ihn nicht mit unpassenden Emotionen belästigst.“
„Ja, Mama“, murmelte Victoria respektvoll, aber ohne ein Wort der mütterlichen Ansicht zu glauben. Nach einer Vernunftehe sah Lord Simons Benehmen ihrer Meinung nach nun wirklich nicht aus. Eher neigte sie zu der Ansicht, er leide vielleicht unter einer gewissen Schüchternheit, aber das werde sich mit der Zeit schon geben. Fester denn je war sie deshalb entschlossen, den Antrag Lord Simons anzunehmen. Warum schließlich sollte er keinen Gefallen an ihr gefunden haben? Sie litt nicht unter mangelndem Selbstbewusstsein und hatte in den letzten zwei Jahren durchaus schon akzeptable Anträge erhalten, so dass nicht einzusehen