Schulpsychologie -. Jürgen MietzЧитать онлайн книгу.
Das Referendariat ist leider häufig eine Epoche, die nicht der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Individualisierung und Identitätsbildung dient. Einerseits werden die zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen in dieser Ausbildung durch Abhängigkeit und Prüfungsangst geformt. Andererseits aber dürfte sie einem erheblichen Teil der Lehrer und Lehrerinnen entsprechen: als Fortsetzung von etwas, was man kennt.
Das Referendariat ist kein Ort, wo diese Haltungen der Anpassung und Abhängigkeit aufgedeckt und Alternativen entwickelt werden. Gerade Letzteres wäre aber wichtig, um Schule "neu denken" und neu machen zu können. Eher kann man davon ausgehen, dass im Referendariat das Grundprinzip von Schule - Funktionalisierung, Abhängigkeit, Loyalität - klar und deutlich vor Augen geführt wird.
Es ist nicht davon auszugehen, dass nach dem Eintritt in das Lehrerdasein ein Interesse an Individualisierung und Entwicklung von Schule einträte. Eher kann man damit rechnen, dass Genugtuung eintritt: Immerhin hat man es geschafft; man ist in Sicherheit. Nun das Ausbildungssystem in Frage zu stellen, hieße auch, die eigene - auch fragwürdige - Leistung in Frage zu stellen. Und es würde u.U. erschreckend bewusst, dass man an seiner eigenen Unterwerfung verantwortlich mitgewirkt hat. Da mag die Duldung dieses Systems erträglicher sein.
5 Grenzen der Individualisierung in Schule
Es gibt mancherlei Bemühungen, Schule neu zu gestalten: Organisationsentwicklung, Supervision /Coaching, Einzelpersonen oder Teilgruppen in Kollegien führen neue Unterrichtsmodelle ein. All das sind Versuche, Schule zu einem menschengerechteren Lernort zu machen. Berichte darüber sollen ermutigen und belegen: Es geht auch anders.
Angesichts der weiterhin bestehenden alten Strukturen und Gewohnheiten besteht allerdings die Gefahr, dass solche Bemühungen der Verklärung statt Klärung dienen, dass sie in Entmutigung münden. Die mit viel Ruderarbeit dem Tanker Schule beigebrachten kleinen und unbeständigen Kurskorrekturen erzeugen Illusionen über die Steuerbarkeit des Schiffes. Die Kapitäne selbst fahren noch einen anderen Kurs, die Kommunikation zwischen ihnen und übrigen Abteilungen der Besatzung ist schlecht. Um das Bild hier zu beenden: Für Veränderungsbereite ist es oft entmutigend, wie isoliert ihre Änderungsversuche bleiben. Behelfsmäßigkeit, unsichere moralische Unterstützung (von finanzieller und personeller zu schweigen) der Behörden, Abhängigkeit von fernen Aufsichtsebenen; Zweifel, Abwehr, Gleichgültigkeit von Kollegen und Kolleginnen, wie auch von Leitungen, sind häufig Begleitumstände der Erneuerungsversuche.
Hintergrund ist, dass es einerseits eine Erneuerungs- und Individualisierungsrhetorik gibt, die Ansätze zum Umbau der Schule zulässt oder auch ermuntert; andererseits gibt es eine Funktionalisierungspraxis, die Ansätze der Erneuerung scheinbar mühelos aufsaugt, in das Alte integriert. Die Funktionalisierungspraxis kann sich immer noch auf die Macht des Gewohnten und Bewährten, auf den (verständlichen, aber in die Sackgasse führenden) Wunsch nach Ruhe, auf den wissenden Skeptizismus altgedienter Hasen, die tw. jahrzehntelange Erfahrung in modernisierender Stagnation haben, stützen.
Es ist problematisch, dass aus Gesellschaft und Bildungspolitik keine Aufbruchstimmung ausstrahlt. Erneuerung erscheint als verwaltungsmäßiges, gesetzgeberisches und organisatorisches Problem - als Aufgabe, die mittels der alten Strukturen erledigt werden könne. Oder sie erscheint als Luxusthema von ministeriellen, aufsichtlichen, bildungswissenschaftlichen Eliten, welche von der Mehrheit der Lehrer und Lehrerinnen skeptisch und abwartend (was man hat, das weiß man; was man kriegen wird, ist ungewiss) beäugt werden.
Schlechte Erfahrungen mit der Bildungsbürokratie, was die Ernsthaftigkeit ihres Interesses an Pädagogik angeht, lassen auch Veränderungsbereite sich in das Lager der Beharrenden einreihen. Es fehlen die Symbole, die auch an der Basis deutlich machen, dass es um einen Aufbruch geht, der neue Spielräume erschließt, der alle Menschen und Ebenen der Organisation erfassen muss, wenn neue Qualität entstehen soll.
Beispiele zwiespältiger Versuche der Erneuerung
Eine Schulleiterin unterstützt es, dass sich eine Teilgruppe ihres Kollegiums in Supervision begibt. Sie verschließt sich jedoch einer Diskussion der Ergebnisse, die die Identität der Schule, die Inhalte und Strukturen der Zusammenarbeit und ihre Leitungstätigkeit berühren. Im Grunde versteht die Leiterin Supervision als Therapie für Lehrer und Lehrerinnen, nicht als Entwicklungsmöglichkeit für die Schule. Wohl gewinnen die Mitglieder der Gruppe erweiterte Kenntnis über sich und die Institution, was Letzterer jedoch kaum zugutekommen kann. Eher ist es so, dass der geschärfte Blick der Teilnehmer für die eigene Person und für die Institution Wünsche nach Schulwechsel oder Resignation entstehen lässt.
Häufig kommt es vor, dass kleine Lehrer/innen-Gruppen mit Schülern und Schülerinnen an bestimmten Themen arbeiten. Bei allen Beteiligten stößt das auf positive Resonanz. Diese weicht jedoch oft einer Ernüchterung: Die Aktivitäten werden zur Imagepflege der Schule (Werbung für Eltern, Artikel im Lokalteil der Zeitung) verwendet und der "alten" Schule äußerlich angeheftet. Diese bleibt so, wie sie ist. Das Neue, wenn es nicht als schöne Erinnerung ins "Archiv" wandern soll, ist bald etwas Zusätzliches, was den gewohnten und bevorzugten Ablauf stört. Die Aktivitäten der "Neuerer" fließen nicht in die pädagogische Diskussion der Schule ein.
Ein anderer Fall von Zwiespältigkeit: Drei Abteilungsleiter einer Schule befinden sich in Supervision. Aus der Erforschung der Potenziale ihrer Person, aus einer Analyse ihrer Rolle an der Schule ergeben sich Einsichten in Verstrickungen, in selbstgestellte Fallen und Ansätze für neue Strategien. Ein Aspekt der Untersuchung ist, dass die "Engagierten" der Schule sich zu einem überwiegenden Teil aus Leitungsleuten rekrutieren; den Schulleiter halten sie für "ansprechbar". Das Kollegium seinerseits sei aufgeschlossen für Fortbildungstage (Kennenlernen von Entspannungstechniken; schülerorientierter Unterricht). Allerdings übernehme es kaum Verantwortung im Sinne der Entwicklung von neuen Ideen und Konzepten, die sich aus den Fortbildungen ergeben könnten. Verschiedenerlei wird deutlich:
die "Engagierten" bearbeiten die Kollegen im Muster der "alten Schule" mit moralisierenden und pädagogisierenden Überzeugungsversuchen; sie erzeugen damit die schulübliche Widerständigkeit, bauen das auf, was sie zu überwinden hofften. Obwohl sie den Eindruck hatten, Individualität der Kollegen fördern und nutzen zu wollen, hatten sie nicht erkannt, wie sehr sie in der Praxis selbst belehrend waren, die alten Strukturen beibehielten und die Kollegen auf sie "schülerhaft" (Individualität rettend) widerständig reagierten.
die Kollegen und Kolleginnen saugen Service-Angebote für die Psychohygiene auf, ohne dass das in Interesse oder Engagement für die Veränderung der Schule münden müsste;
bei aller "Ansprechbarkeit" des Schulleiters für Neuerungen hat der Überlegungen zu grundsätzlichen Umorganisierungen wie Teambildung u.ä., welche erst eine ernsthafte Herausforderung für Persönlichkeit und Ideenentwicklung wäre, nicht vorangetrieben; die "Service-Angebote" hat er unterstützt.
die Fülle der Aufgaben für die Leitungsleute, wie auch die Befangenheit im alten Entwicklungsmodell lassen praktisch keine Gelegenheiten für Zusammenarbeit und Reflexion der Ziele und Mittel aufkommen; es wird viel gearbeitet, "Sinnproduktion" findet nicht statt; nun taucht zum ersten Mal der Gedanke auf, die Zuschnitte der Verantwortlichkeiten, die Inhalte der Aufgaben der Abteilungsleiter zu überdenken; dazu muss der Schulleiter hinzugezogen werden, seine persönlichen "Visionen" werden angesprochen sein, ebenso wie die Frage nach den Spielräumen der Organisationsfreiheit der Schule;
Fazit: Die Mehrzahl der Kollegen und Kolleginnen hat bewusst oder intuitiv die Realität der weiterhin geltenden, beharrenden schulischen Strukturen und Inhalte erfasst und sich von fragwürdigen Veränderungsversuchen ferngehalten; die Entlastungen, die das Engagement einzelner Kollegen ermöglichte, hat das Kollegium gerne wahrgenommen. Der Schulleiter (wie auch die herrschende Schulpolitik) haben, wenn auch "nur" symbolisch und nicht explizit, so doch konkret genug zum Ausdruck gebracht, was an Veränderung möglich ist und was nicht. Den Teilnehmern der Supervisionsgruppe bleibt, sich aufs Neue nach ihrer Rolle in diesem Geschehen zu fragen.
Diese Beispiele zeigen, wie nah Veränderungswille, Ansätze der Veränderung und deren