Die großen Schlagzeilen Ostbayerns. Mittelbayerische ZeitungЧитать онлайн книгу.
betreibt dort ein Fuhrgeschäft, die Mutter hat einen kleinen Porzellan-Laden, in dem der Sohn mit seinen beiden Schwestern aufwächst. 1950 verlässt der Vater Hals über Kopf die Familie. „Er konnte sich mit der Politik im Osten nicht anfreunden und hat kein Blatt vor den Mund genommen“, erzählt Sarnes. Der Vater wird von einem Freund gewarnt, dass er verhaftet werden soll, und flieht - erst nach Westberlin, dann verschlägt es ihn nach Regensburg. Die Familie soll ihm später folgen, doch dazu kommt es nicht. „Meine Eltern haben sich durch die Trennung auseinandergelebt“, sagt Sarnes. Er trifft den Vater nur zwei- oder dreimal im Jahr in Berlin. „Er wollte immer, dass ich nach der Schule zu ihm ziehe“, erzählt Sarnes. Sein Vater hat in Regensburg inzwischen erfolgreich einen mobilen Autokranbetrieb aufgebaut. Doch der Mauerbau am 13. August 1961 reißt die Familie endgültig auseinander. Die Ehe der Eltern wird schließlich auf Wunsch des Vaters geschieden.
Als die Mutter 1967 stirbt, verliert ihr Sohn seinen Fixpunkt. In ihm reift der Wunsch, die DDR zu verlassen. „Hätte meine Mutter noch gelebt, wäre ich nie gegangen.“ Doch als „schwarzes Schaf“ fühlt er sich schon länger. Weil sein Vater in den Westen gegangen ist, wird auch er von den Behörden kritisch beäugt: „An ein Studium war nicht zu denken.“ Stattdessen wird er Automechaniker. Mit dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968 rückt eine Ausreise nach Westdeutschland aber in noch weitere Ferne. Dennoch versucht es Bernd Sarnes zunächst auf dem legalen Weg und stellt zwei Ausreiseanträge. Beide werden abgelehnt.
Bernd Sarnes hat die Stasi gut beschäftigt: Stapelweise wurden Akten über ihn angelegt. Foto: Lex
Da tut sich eine andere Möglichkeit auf: In Regensburg bietet ein Bekannter der Familie Hilfe an: Er kenne jemanden, der Bernd herüberholen könne. Der Plan sieht vor, dass Bernd zum Jahreswechsel 1969/70 mit einer Touristengruppe aus der DDR in die CSSR einreisen soll, um von dort nach Bayern zu kommen. „Da habe ich eine Fahrt nach Karlsbad gebucht“, erzählt Bernd Sarnes. Doch einen Tag vor der Abreise wird die Reise abgesagt. Stattdessen bekommt er einen Platz für eine Fahrt ins böhmische Prachov. Noch am selben Tag, es ist der 28. Dezember 1968, schickt er seinem Vater ein Telegramm, getarnt als Gruß zum Jahreswechsel, und nennt sein neues Ziel. Er hofft, dass sein Fluchthelfer rechtzeitig davon erfährt. Am 29. Dezember kurz vor Mitternacht steigt Bernd Sarnes mit einem kleinen Koffer in Ostberlin in den Reisebus. Damals ahnt er nicht, dass er seine Heimat zwanzig Jahre lang nicht mehr betreten wird. Nur eine seiner beiden Schwester weiß, was er vorhat.
Zimmer nach vorn
Am 30. Dezember erreicht die Reisegruppe ihr Ziel. Im Hotel ist Bernd Sarnes mit zwei anderen Männern in einem Dreibettzimmer untergebracht. Es ist schon nach 22 Uhr, als plötzlich Scheinwerferlicht ins Zimmer fällt. „Zum Glück ging das Zimmer nach vorne raus, sonst hätte ich das Auto mit Münchner Kennzeichen gar nicht bemerkt“, erinnert er sich. Er geht in den Eingangsbereich des Hotels und sieht dort einen Mann, den er kennt: „Herrn Schmidkunz, meinen Fluchthelfer.“ Schon ein paar Monate zuvor hatten sie sich in Ostberlin getroffen. Ein kurzer Blickkontakt genügt. Sarnes holt seinen Mantel aus dem Zimmer, alles andere lässt er zurück. Er überzeugt den Nachtportier davon, dass er noch ausgehen möchte, und bekommt sogar den Hotelschlüssel ausgehändigt. „Den habe ich bis heute“, sagt Sarnes schmunzelnd.
Draußen steigt er in den Fluchtwagen, gut 360 Kilometer sind es bis zur Grenze. „Im Laufe der Fahrt bin ich immer ruhiger geworden“, erzählt er. Um vier Uhr früh erreichen sie Waidhaus. „Eigentlich wollten wir nach Furth im Wald, hatten uns aber verfahren.“ Sarnes versteckt seinen DDR-Ausweis im Sitzpolster, wickelt sich einen Schal um Hals und Kopf und versinkt tief im Beifahrersitz. Sein Begleiter gibt ihn als türkischen Staatsbürger mit dem Namen Esme Süleyman aus. So steht es in dem falschen Pass und später auch in den Stasi-Unterlagen. „Schmidkunz hat behauptet, ich hätte die asiatische Grippe und müsse sofort das Land verlassen“, erzählt Sarnes. Niemand solle ihm zu nahe kommen, habe sein Fluchthelfer die Grenzer gewarnt. „Die haben mich nicht mal angeschaut.“ Dann passieren sie das Schild „Bundesrepublik Deutschland“. „Das Bild habe ich noch immer vor Augen“, sagt Sarnes. Die bayerischen Grenzbeamten streifen die Pässe nur mit einem Blick, und öffnen den Schlagbaum. Geschafft!
Direkt zur Bank
Frühmorgens erreicht Sarnes Regensburg und klingt seinen Vater aus dem Bett. „Schmidkunz wollte gleich sein Geld haben, aber die Bank hatte natürlich noch zu.“ Punkt acht Uhr stehen die drei vor der Commerzbank am Bismarkplatz. „Mein Vater hat 40 000 Mark abgehoben, danach habe ich meinen Fluchthelfer nie mehr gesehen“, sagt Sarnes. Er glaubt nicht, dass sein Begleiter ein professioneller Schlepper war: „Ich hatte den Eindruck, dass er einfach dringend Geld gebraucht hat.“ Von der Bank geht es weiter zur Post, Bernd schreibt seiner Schwester in Zossen ein Telegramm, dass alles gut gegangen ist. Drüben schlägt seine Flucht gewaltige Wellen: „Mein ganzes Umfeld wurde verhört, meine Familie, meine Arbeitskollegen und die Mitfahrer der Reisegruppe.“
Der Neuanfang in Regensburg ist schwer. Sarnes arbeitet in der Firma des Vaters, doch ihr Verhältnis ist schwierig. Nach einigen Jahren gehen sie getrennte Wege. Bernd Sarnes baut sich ein eigenes Leben auf. Heute hat er zwei erwachsene Söhne und fühlt sich „sauwohl“ in der Oberpfalz, auch wenn man den Berliner noch heraushört. Von der „alten Fluchtgeschichte“ will er kein Aufhebens machen. Er hat nicht das Abenteuer gesucht, sondern die Normalität - und hat dort längst Wurzeln geschlagen.
Schüsse auf die Pfarrversammlung
Die großen Schlagzeilen Ostbayerns: 2005 läuft in Saltendorf ein 49-jähriger Hobbyjäger Amok, tötet einen Rentner und verletzt acht Menschen schwer.
Von Isolde Stöcker-Gietl, MZ
Saltendorf. Die rund 60 Besucher des Pfarrfamilienabends hatten gerade das Lied „Großer Gott wir loben dich“ gesungen. Es war Sonntagabend gegen 21.45 Uhr. Im Gasthaus Schlosser in Saltendorf herrschte Aufbruchstimmung. Die Atmosphäre war gelöst, der Abend mit dem neuen Pfarrer Xavier Parambi harmonisch verlaufen. Niemand ahnte, dass dieser 30. Oktober 2005 das Leben der Pfarrgemeindemitglieder für immer verändern sollte. Als die Schüsse knallten, erst durch ein Fenster, dann im Flur, schließlich in der Küche und in der Gaststube, wo der Stammtisch saß, verbreitete sich Panik und Angst. Der beschauliche Ort nahe Wernberg-Köblitz war Ziel eines Amoklaufs geworden. Und der Täter kam mitten aus ihrer Gemeinschaft.
„Man versucht zu vergessen“
„Schüsse – und plötzlich herrschte Totenstille“, schrieb die MZ am 1. November 2005 auf ihrer Titelseite. Fast 20 Stunden lang hatte der Amoklauf von Saltendorf die Menschen in ganz Deutschland in Atem gehalten. Denn der Attentäter – ein damals 49-jähriger, arbeitsloser Maschinenschlosser – war auf der Flucht. Die Polizei rückte zu einem ihrer bis dahin größten Einsätze im Landkreis aus.
Die Fragen nach dem „Warum“ sind bis heute in den Köpfen der Menschen. Warum musste ein 67-jähriger Rentner sterben, warum mussten acht Menschen schwere Verletzungen davontragen, warum wollte sich der Mann an ihnen rächen? Pfarrer Xavier Parambi sagt im Gespräch mit der MZ, dass man inzwischen versuche, zu vergessen. „Die Dorfbewohner wollen nicht mehr darüber reden.“ Im Ort sei wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Kirwaverein, Ministranten und Landjugend sorgten für Lebendigkeit. „Die vielen engagierten Jugendlichen tun der Pfarrei gut.“
Auch der Täter gehörte zu dieser Pfarrei. Der passionierte Jäger galt als Eigenbrötler, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt und auch gerne Beleidigungen austeilte. Man mochte ihn nicht besonders und mied den Kontakt. Der 49-Jährige lebte mit seinem Vater bis zu dessen Tod auf dem Hof seines Bruders. Im Ort nannte man ihn arbeitsscheu und renitent. An jenem 30. Oktober 2005 hätte der Mann die Wohnung auf dem Hof seines Bruders räumen müssen. Das Gericht sah dies aber bei der Hauptverhandlung später nicht als den Auslöser für