Der Verschollene. Franz KafkaЧитать онлайн книгу.
ihn auf, sich gleichfalls schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklich ausgezeichnet!«
Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karl dieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der zweite, wie sich während des Tischgesprächs herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Karl, durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Karl eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Karl still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich sattessen müsse, beugte sich Herr Green zu Karl hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im allgemeinen nach Karls ersten amerikanischen Eindrücken. Karl antwortete unter einer Sterbensstille ringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas New Yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander, und Karl fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht zu haben; jedoch nein, er hatte, wie Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen zu finden, und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zu sich hinschieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Karl wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier, und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag fest. Karl wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses Landgut hinauszukommen, ein so frischgebackener Amerikaner wie Karl habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von New York manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen, und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber schon am nächsten Tag wurde Karl in ein Büro des Onkels beordert (der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause), wo er den Onkel und Herrn Pollunder ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf.
»Herr Pollunder,« sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen, »Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben.«
»Ich wußte nicht, daß es schon heute sein sollte«, antwortete Karl, »sonst wäre ich schon vorbereitet.«
»Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens«, meinte der Onkel.
»Was für Vorbereitungen!« rief Herr Pollunder. »Ein junger Mann ist immer vorbereitet.«
»Es ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel, zu seinem Gäste gewendet, »aber er müßte immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen, und Sie wären aufgehalten.« »Es ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte Herr Pollunder, »ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluß gemacht.«
»Du siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlaßt.«
»Es tut mir leid«, sagte Karl, »aber ich werde gleich wieder da sein«, und wollte schon wegspringen.
»Übereilen Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder. »Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine Freude.« »Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?« »Nein«, sagte Karl, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an, eine Last zu werden, »ich wußte ja nicht -«
»Und trotzdem willst du wegfahren?« fragte der Onkel weiter.
Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zu Hilfe.
»Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen.«
»Das läßt sich hören«, sagte der Onkel. »Aber Mack wird dich doch erwarten.«
»Erwarten wird er mich nicht«, sagte Karl, »aber er wird allerdings hinkommen.«
»Nun also?« sagte der Onkel, als wäre Karls Antwort nicht die geringste Rechtfertigung gewesen.
Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende: »Aber Klara« - sie war Herrn Pollunders Tochter - »erwartet ihn auch und schon heute abend, und sie hat wohl den Vorzug vor Mack?«
»Allerdings«, sagte der Onkel. »Also lauf schon in dein Zimmer«, und er schlug mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: »Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?«
»Aber!« rief Herr Pollunder und drehte sich, soweit es seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. »Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück?«
»Das geht auf keinen Fall«, erwiderte der Onkel. »Ich kann sein Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen.«
>Was das für Widersprüche sind!< dachte Karl.
Herr Pollunder war traurig geworden. »Für einen Abend und eine Nacht steht es aber wirklich fast nicht dafür.«
»Das war auch meine Meinung«, sagte der Onkel.
»Man muß nehmen, was man bekommt«, sagte Herr Pollunder und lachte schon wieder. »Also, ich warte!« rief er Karl zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davoneilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte Karl ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, daß Karl nun doch mitfahre. Karl war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können.
»Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, daß ich fahre?«
»Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen.«
»Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das Frühere nicht so ernst gemeint hat?«
»O ja«, sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, daß er nicht lügen konnte.
»Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, obwohl Sie doch sein Freund sind.«
Auch Herr Pollunder konnte, obwohl er dies nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden, und beide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, obwohl sie gleich von anderen Dingen sprachen.
Sie saßen eng beieinander, und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Obwohl er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Karl, während er Herrn Pollunders Worte genau aufzunehmen suchte,