Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
dir noch einmal die Tatsache ins Gedächtnis zurückrufen, daß du vollständig allein und hilflos dastehst, nicht nur in diesem Haus, sondern auch in der Welt draußen!«
Sie hatte ihre Gedanken gesammelt und konnte sich verteidigen.
»Ja, und du bist der starke Mann. Hättest du mich nicht so gedrängt, wärst du früher oder später vielleicht ans Ziel gekommen.«
Sie lehnte sich an einen Sessel, ihre Hände lagen auf dem Rücken. Ihre ruhige Haltung brachte ihn aus der Fassung. Er hatte vermutet, daß sie ihn trotzig zurückweisen oder sich ergeben würde, aber er fühlte jetzt nur, daß sie ihm irgendwie überlegen war, und das machte ihn unsicher. Er ärgerte sich über sich selbst.
»Ich bin nicht sehr böse über ... über dein lächerliches, tragikomisches Benehmen. Ich will dich nicht heiraten, Artur. Du hast selbst zugegeben, daß du nicht besonders anziehend für mich bist, denn ich muß dich ›nehmen‹, weil du in einer besseren finanziellen Lage bist. Ist das nicht protzig und aufgeblasen? Dann hast du mir mit Erpressung oder etwas Ähnlichem gedroht. Du bist der zweite Betrunkene, den ich heute gesehen habe, nur stehst du unter dem Einfluß eines noch kräftigeren Rauschmittels als mein Vater. Du bist besessen von deiner Eitelkeit, und für solche Leute ist es nicht minder schwer, wieder nüchtern zu werden.«
Ihre Worte hatten ihn getroffen, er war sehr verlegen geworden. Alle Gründe, die er sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte, um sie zu besiegen, waren nun hinfällig geworden.
Sie ging zur Tür und öffnete sie.
»Ich möchte nur noch das eine sagen«, begann er.
Aber sie lachte: »Hast du wirklich noch etwas zu sagen?«
Er verließ schweigend das Zimmer, und sie verschloß die Haustür hinter ihm.
Ihre Hand ruhte noch eine Weile auf der Türklinke, und sie blieb nachdenklich stehen. Sie hatte den Kopf vorgebeugt, als ob sie lauschen wollte, aber sie war nur in Gedanken versunken.
Dann drehte sie unten alle Lichter aus und ging in ihr Zimmer hinauf. Es war eigentlich noch zu früh, sich schlafen zu legen, aber sie wußte nicht, warum sie sich unten noch hätte aufhalten sollen. Sie entkleidete sich langsam beim Licht des Mondes, das durch das Fenster hereinfiel. Ihr Zimmer lag im obersten Geschoß, wo sich auch die Räume der Dienstboten befanden. Sie hatte dieses Zimmer gewählt, weil sie von hier aus einen Rundblick hatte, der nicht von störenden Baumgruppen unterbrochen wurde.
Sie zog einen Morgenrock über ihren Pyjama, öffnete das Fenster, stützte sich mit den Ellbogen auf die Fensterbank und schaute hinaus. Das Mondlicht hatte draußen alle Farben verändert. Das helleuchtende Grün der Wiesen war zu einem leichten Grau geworden. Der alte Steinbruch von Beverley am bewaldeten Abhang des Hügels glich einer großen Muschelschale. Die Nacht war ruhig und friedvoll, nur der Ruf einer Eule kam von den Hügeln herüber. Aber plötzlich hörte sie, daß jemand auf dem geschotterten Weg fast im Marschtempo eines Soldaten entlangging. Wer mochte das sein? Sie kannte diesen Schritt nicht. Jetzt kam der Fremde in Sicht.
Zwischen den Ästen zweier Bäume sah sie einen Mann und wußte, wer er war, noch ehe er den Blick zu ihrem Fenster erhob.
Es war der Detektiv mit den grauen Augen – Andrew Macleod!
Sie preßte die Lippen zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, trat hastig zurück und schloß das Fenster behutsam. Ihr Herz schlug wild, sie fühlte den Puls in ihren Halsadern und an den Schläfen.
Was mochte er wollen? Sie schlich sich leise wieder zum Fenster und spähte hinaus. Nach einer Weile öffnete sie es wieder. Sie hörte nicht, daß sich seine Schritte entfernten, aber gleich darauf sah sie ihn wieder. Er ging über den Rasen und verschwand bald. Nach einiger Zeit hörte sie das Geräusch eines Motors, das langsam wieder erstarb.
Sie taumelte zu ihrem Bett und setzte sich nieder.
Auch Artur Wilmot quälten zu dieser Stunde unruhige Gedanken. Was mochte sie von ihm denken? Aber er hätte sich die schlaflose Nacht ersparen können, denn Stella Nelson hatte vollkommen vergessen, daß ein Mensch wie Artur Wilmot überhaupt existierte.
5
Scottie wurde plötzlich mitteilsam, ja geradezu beredt, als er und Andy auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten.
»Sie glauben, daß Sie die Kehrseite des Lebens, all den Schmutz und all das Elend kennen, Macleod, weil Sie mit den Spelunken der großen Stadt vertraut sind? Mit den chinesischen Opiumhöhlen und den Freudenhäusern mit den seidenen Vorhängen und den weichen Diwans? Ich weiß, daß Sie nicht so sehr von sich überzeugt sind wie all diese anderen Mißgeburten, die sich Detektive nennen. Ihr Beruf als Arzt hat Sie mehr in die Tiefe schauen lassen. Sie kennen das Leben gründlicher als diese Leute, aber alles wissen Sie auch nicht.«
»Nein, ich weiß nicht alles«, gab Andy zu.
»In diesem Punkt irren sich die meisten Polizeileute – Sie nicht, aber viele andere. Verbrecherkneipen und Lokale, wo sich der Abschaum und die Hefe des Volkes herumtreibt, wo die kleinen Gauner und Verbrecher verkehren, die sich wie Rothschild vorkommen, wenn sie einmal fünf Pfund in der Hand haben – das sind die schlimmsten Plätze nicht.« Er schaute sich um. Der Polizist aus Beverley, der ihn zur Stadt eskortieren sollte, sah gedankenlos drein und hörte nicht zu. »Wenn Sie die wirkliche Hölle finden wollen, dann müssen Sie nach Beverley Green gehen!«
Andy sah ihn erstaunt an, unwillkürlich überlief ihn ein Schauder.
»Wieso denn? Haben Sie irgend etwas Besonderes gehört?«
Scottie schüttelte den Kopf und zog die Lippen zusammen.
»Nein, gehört habe ich nichts, aber ich habe es gefühlt. Ich bin sehr empfänglich für – zum Teufel, wie heißt doch gleich das Wort – für die Atmosphäre. Sie werden vielleicht darüber lachen, aber Sie werden nicht mehr lachen, wenn Sie mein Alibi zu Gesicht bekommen. Schon oft hat mich mein Gefühl vor langen Gefängnisstrafen bewahrt. Es ist etwas ganz Seltsames. Ich werde Ihnen einen Fall erzählen. Ich war in einem Gefängnis, als man einen Mann dort hinbrachte, der gehenkt werden sollte. Niemand wußte, daß er dort war. Man hatte ihn am Tage vor seiner Hinrichtung plötzlich dorthin überführt, weil der Fußboden des Exekutionsgebäudes Feuer fing. Das ist eine Tatsache! Und ich wußte, daß er im Gefängnis war, ich fühlte es sofort, als er das Haus betrat. Und ein ähnliches Gefühl habe ich von Beverley Green. Da ist irgendein Unheil im Gange. Sie sind erstaunt, Macleod? Ich möchte fast sagen, daß einen die Geister und Gespenster berühren, wenn man dort geht. Ich sage Ihnen, es ist unheimlich. Deshalb habe ich die ganze Gegend das Geistertal genannt. Ich werde Ihnen etwas erzählen, was sehr zu meinen Ungunsten spricht, wenn Sie es vor Gericht vorbringen. Aber ich traue Ihnen, Macleod – Sie sind nicht wie die anderen. Sie waren immer ein Gentleman. Ich hatte eine Pistole. Ich besaß stets eine Waffe, ich nahm sie bloß nie mit. Aber in Beverley Green konnte ich mir nicht helfen, ich steckte sie ein, wenn ich dort herumging. Ich trug sie auch bei mir, als Sie mich verhafteten. Als wir nach Beverley hineinfuhren, habe ich sie fortgeworfen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen wo, denn Sie haben es doch nicht gemerkt.«
»Ich habe es genau gesehen – Sie taten es, als wir zu der großen Kurve vor der Stadt kamen. Aber wir wollen uns nicht darüber streiten; ich werde sogar meinen Auftrag widerrufen, die Abhänge neben der Eisenbahn zu durchsuchen. Warum haben Sie das getan, Scottie? Sie fürchten sich doch sonst nicht so leicht?«
Scottie machte ein düsteres Gesicht und war sehr ernst.
»Ich weiß es selbst nicht. Ich bin nicht nervös und war es auch noch nie. Vor einem Menschen aus Fleisch und Blut habe ich keine Angst. Aber ich hatte ein ganz unerklärliches, unheimliches Gefühl – wissen Sie, wenn ich Sternschnuppen sehe, geht es mir auch so. Es war reine Furcht. Ich habe gestern noch mit Merrivan darüber gesprochen. Sie kennen ihn doch, er schwatzt über alles, was in der Gemeinde vorgeht –«
Andy mußte lachen, als er an diesen Reklamechef und Fremdenführer von Beverley Green dachte.
»Er ist kein schlechter Kerl, aber er hat das Zuhören verlernt. Das kommt von der Korpulenz. Das bestätigte