Robert Louis Stevenson - Gesammelte Werke. Robert Louis StevensonЧитать онлайн книгу.
Kapitän und kratzte sich den Kopf, »und wenn ich noch so sehr auf die Güte der Vorsehung rechne, Doktor, möchte ich sagen, wir sind in einer ziemlich ekligen Klemme!«
»Wieso?«
»Es ist jammerschade, Doktor, daß wir die zweite Bootsladung verloren haben,« antwortete der Kapitän. »Mit unserem Pulver und Blei werden wir reichen. Aber die Rationen sind knapp, sehr knapp – so knapp, Doktor Livesey, daß es vielleicht ebensogut ist, diesen Esser weniger zu haben.« Und mit diesen Worten zeigte er auf den Leichnam unter der Flagge.
Gerade in diesem Augenblick flog sausend eine Vollkugel hoch über das Dach des Blockhauses hinweg und schlug weit hinter uns in den Wald ein.
»Oho!« rief der Kapitän; »pulvert nur los! Ihr habt jetzt schon wenig genug Pulver, meine Jungens.«
Der zweite Schuß war besser gezielt: die Kugel schlug innerhalb der Palisade ein und warf eine Sandwolke auf, richtete aber sonst keinen Schaden an.
»Kapitän,« sagte der Squire, »das Haus ist vom Schiff aus vollständig unsichtbar, es muß die Flagge sein, wonach sie zielen. Wäre es nicht weiser, sie einzuziehen?«
»Meine Flagge streichen!« rief der Kapitän. »Nein, Herr – das tu ich nicht!«
Und ich glaube, wir alle waren seiner Meinung, sobald er diese Worte gesprochen hatte. Denn es war nicht nur eine Äußerung kräftigen Seemannsmutes, sondern es war auch politisch klug; denn die Flagge zeigte unseren Feinden, daß wir ihre Kanonade verachteten.
Den ganzen Abend donnerten sie mit ihrer Kanone. Eine Vollkugel nach der anderen flog über uns hinweg oder war zu kurz gezielt oder wirbelte in der Umzäunung den Sand auf; sie mußten aber so hoch im Bogen schießen, daß die Kugel sich unschädlich in den weichen Sand einbohrte. Wir brauchten kein Abprallen der Kugel zu fürchten; eine schlug allerdings durch das Dach des Blockhauses und fuhr durch den Fußboden wieder heraus, aber wir gewöhnten uns bald an den Spaß und kümmerten uns so wenig darum, wie wenn Kricket gespielt würde.
»Ein Gutes hat das alles,« bemerkte der Kapitän: »Der Wald zwischen uns und dem Strande ist wahrscheinlich vom Feinde nicht besetzt. Die Ebbe ist mittlerweile ein gutes Stück zurückgegangen, wahrscheinlich liegen unsere Vorräte jetzt nicht mehr im Wasser. Freiwillige vor, um das Pökelfleisch zu holen!«
Gray und Hunter waren die ersten, die vortraten. Gut bewaffnet schlichen sie sich aus dem Pfahlwerk heraus; aber ihr Unternehmen erwies sich als unausführbar. Die Meuterer waren kühner, als wir geglaubt hatten, oder sie hatten mehr Vertrauen zu Israels Schießkunst. Denn vier oder fünf von ihnen waren emsig beschäftigt, unsere Vorräte wegzuschleppen und wateten mit ihnen bis zu einer der Gigs, die ganz in der Nähe lag und ab und zu mit einem Ruderschlag sich gegen die Strömung hielt. Silver saß hinten und führte das Kommando, und jeder einzelne von ihnen war jetzt mit einer Muskete versehen, die sie aus irgendeinem geheimen Magazin genommen haben mußten.
Der Kapitän setzte sich an sein Logbuch und begann seine Eintragungen folgendermaßen:
»Alexander Smollett, Schiffer; David Livesey, Schiffsarzt; Abraham Gray, Zimmermannsmaat; John Trelawney, Eigentümer; John Hunter und Richard Joyce, Diener des Eigentümers, keine Seeleute. Dies sind alle, die von der Schiffsgesellschaft treu geblieben sind. Sie kamen mit Vorräten für zehn Tage bei knappen Rationen heute an Land und zogen auf dem Blockhaus der Schatzinsel die englische Flagge auf. Thomas Redruth, Diener des Eigentümers, Förster, von den Meuterern erschossen; James Hawkins, Kajütsjunge –«
In demselben Augenblick dachte ich bei mir selber, wie es wohl dem armen Jim Hawkins gegangen ist.
Da wurde auf der Landseite des Blockhauses gerufen.
»Einer ruft uns an,« sagte Hunter, der die Wache hatte.
»Doktor! Squire! Kapitän! Hallo, Hunter, seid Ihr das?« rief es draußen.
Und ich lief an die Tür und kam gerade noch zur rechten Zeit, um Jim Hawkins heil und gesund über die Palisaden klettern zu sehen.
Neunzehntes KapitelJim Hawkins nimmt die Erzählung wieder auf: Die Garnison im Pfahlwerk
Sobald Ben Gunn die britische Flagge sah, blieb er stehen, zupfte mich am Arm und setzte sich nieder.
»Nun,« sagte er, »da sind ja deine Freunde!«
»Es ist wohl wahrscheinlicher, daß es die Meuterer sind,« antwortete ich.
»Das?« rief er. »Oh! an einem solchen Ort wie hier, wohin niemals ein Mensch außer dem Glücksgentleman kommt, würde Silver den Jolly Roger hissen –, darauf kannst du dich verlassen. Nein, das sind deine Freunde. Es hat Hiebe gegeben, und ich denke mir, deine Freunde haben die Oberhand behalten, und hier sind sie nun an Land in dem alten Pfahlwerk, das vor Jahren und Jahren von Flint gebaut wurde. Oh, der Flint – der hatte ein Köpfchen! Wäre nicht der Rum gewesen, er hätte niemals seinesgleichen gehabt. Er hatte vor keinem Menschen Angst, der Flint. Nur der Silver – der Silver war so schlau.«
»Nu ja, das kann ja sein – meinetwegen!« sagte ich; »um so mehr Grund, daß ich mich beeile, zu meinen Freunden zu kommen.«
»Nein, Maat – nur nicht so eilig! Du bist ein guter Junge, daran zweifle ich nicht; aber du bist doch schließlich nur ein Junge. Nun, Ben Gunn ist pfiffig! Rum würde mich nicht zu deinen Freunden bringen, zu denen du gehst – Rum reizt mich nicht; erst muß ich deinen Gentleman sehen, der als Gentleman geboren war, und muß sein Ehrenwort haben. Und vergiß meine Worte nicht: ›man immer mit Vertrauen (so mußt du zu ihm sagen), – man immer mit Vertrauen!‹ Und dabei kannst du ihn mal zwicken.«
Und wirklich zwickte er mich in demselben Augenblick zum drittenmal in den Arm und machte dabei wieder das schlaue Gesicht.
»Und wenn Ben Gunn gebraucht wird, dann weißt du, wo du ihn finden kannst, Jim. Gerade da, wo du ihn heute fandest. Und wer kommt, der soll was Weißes in der Hand haben – und der soll allein kommen. Und dann noch eins: Du mußt sagen: ›Ben Gunn‹, sagst du, ›hat seine bestimmten Gründe!‹«
»Schön, ich glaube, ich versteh dich. Du hast irgendeinen Vorschlag zu machen und möchtest den Squire oder den Doktor sehen; und du bist an der Stelle zu finden, wo ich dich zuerst traf. Ist das alles?«
»Und wann? meinst du noch?« sagte Ben. »Na, von ungefähr mittags bis sechs Glasen.«
»Gut! Und nun kann ich wohl gehen?«
»Du wirst doch nicht vergessen?« fragte er ängstlich. »›Man immer Vertrauen, und seine besonderen Gründe‹ – so muß du sagen. ›Seine besonderen Gründe‹ – das ist die Hauptsache. Na, dann denke ich, du kannst gehen.«
Er hielt mich aber immer noch am Arm fest und fuhr fort:
»Und, Jim, solltest du Silver sehen, so wirst du doch Ben Gunn nicht verraten. Nein, sagst du? Keine vier Pferde würden es aus dir herausziehen? Und wenn die Piraten sich am Strande lagern, Jim – was würdest du dazu sagen, wenn's morgen früh Witwen gäbe?«
Hier wurde er durch einen lauten Knall unterbrochen, und eine Kanonenkugel sauste durch die Bäume, riß Äste herunter und schlug in den Sand ein – keine hundert Schritte von der Stelle, wo wir standen und sprachen. Im nächsten Augenblick waren wir beide in verschiedenen Richtungen davongelaufen.
Eine Viertelstunde lang donnerte ein Schuß nach dem anderen über die Insel. Kanonenkugeln fuhren krachend durch die Bäume. Ich lief von einem Versteck zum anderen, fortwährend von diesen schrecklichen Wurfgeschossen verfolgt – wenigstens kam es mir so vor. Aber gegen Ende des Bombardements war ich doch wieder etwas zuversichtlicher geworden, obgleich ich mich noch immer nicht in die Nähe des Pfahlwerks wagen durfte, wo die Kugeln am häufigsten einschlugen; nachdem ich einen Umweg in östlicher Richtung gemacht hatte, kroch ich schließlich wieder unter die Bäume am Strande.
Die Sonne war eben untergegangen; die Seebrise rauschte durch das Laub des Waldes und kräuselte die graue Oberfläche des Ankerplatzes; die Ebbe hatte große Fortschritte gemacht und weite Strecken Land lagen frei; nach der Hitze des Tages