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Wahlanalyse 2017. Mario VoigtЧитать онлайн книгу.

Wahlanalyse 2017 - Mario Voigt


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ihre Freude auf ein mögliches Jamaika-Bündnis freien Lauf und europäische Parteifreunde schauten etwas verdutzt auf die hängenden Köpfe aus Deutschland, als sie am Montag nach der Wahl nach Brüssel zurückkehrten. Die deutschen Politiker spürten: 2017 war keine „Weiter-so“ Wahl. Das Beunruhigende an diesem Wahlergebnis war weniger eine mögliche schleppende Regierungsbildung. Am Beunruhigstem war, dass auch in Deutschland die Bindefähigkeit gerade von Volksparteien abnahm. Trotz einer enorm guten Wirtschafts- und Finanzbilanz verloren alle Volksparteien zusammen mehr als 3, 5 Mio. Wähler an andere Parteien. Alle drei Volksparteien rutschten auf ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 überhaupt ab. Ein Ergebnis, das nur bedingt mit der großen Koalition erklärt werden kann; zulange existiert jetzt schon der Trend, der sich 2017 lediglich nochmals verschärfte. Dabei verkörpern die drei Volksparteien den bundesrepublikanischen Grundkonsens. Die Volksparteien sind bis heute das beste Mittel, damit der in vielen europäischen Ländern bereits vorhandene Konflikt zwischen Kosmopoliten und „Natives“ nicht prägend für unser Parteiensystem wird, mit all den negativen Auswirkungen auf die politische Kultur und Richtungsentscheidungen. In ihren guten Zeiten haben sie stets Innovation und Stabilität garantiert.

      Ohne Volksparteien wäre Deutschland ein anderes Land

      Bei der Bundestagwahl 2017 erreichten Christ- und Sozialdemokraten zusammen nur noch 53,2% Stimmen und nähern sich damit an ihre schwächelnden europäischen Schwesterparteien an. Gerade das Ergebnis der Sozialdemokraten ist erschreckend: Die SPD ist nicht nur mit ihren knapp 20 Prozent aufgrund der Wählerarithmetik her kaum noch eine Volkspartei. Auch in den Tagen nach der Wahl rüttelten die führenden Sozialdemokraten ganz grundsätzlich an der Volksparteiidee, indem sie nicht nur Regierungsverantwortung rundweg ablehnten, sondern auch einer zunehmenden Polarisierung das Wort redeten. Aber sind wirklich Flucht vor der Verantwortung und eine programmatische Polarisierung Kernelemente von Volksparteien? Der umfassende Volksparteitypus bildet doch gerade einen Gegenkonzept gegen ideologische Massenparteien und egoistischen Honoratiorenparteien. Er orientiert sich nicht an den Rändern, sondern stärkt die Klammern innerhalb der politischen Spektren.

      Den nun von Schulz, Nahles & Co propagierten Linkstrend, den bereits die französischen Sozialisten unter Holland das Wort redeten, ist im Grunde eine programmatische Bankrotterklärung der heutigen Sozialdemokratie. Polarisierte Antworten können kurzfristig erfolgreich sein, untergraben aber langfristig die politische Glaubwürdigkeit und das sozialdemokratische Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Linkspopulisten. Schulz Wahlkampf war nicht zu „mittig“, sondern zu ideenlos. Martin Schulz Problem bestand nicht darin, sozialdemokratischen Kernthemen ausgelassen zu haben, sondern für sie keine konkreten politischen Vorschläge entwickelt und kampagnenmäßig aufbereitet zu haben. Sein Wahlkampf stotterte, weil er weder von einer politischen Erzählung noch konkreten Projekten angetrieben wurde. Der Unterschied zu den drei Schröder-Wahlkämpfen war dabei augenfällig. Während der eine zugespitzt für einen besseren Kündigungsschutz oder gegen den Irak-Krieg stritt, philosophierte der andere in seinem Wahlkampfspott, wie Kindern soziale Gerechtigkeit besser vorgelebt werden könne. Beides war filmisch gut gemacht, beides an Lebensrealitäten orientiert, aber nur der von Schröder war wirklich politisch.

      Mit einem ähnlichen Problem war der Merkel-Wahlkampf konfrontiert. Merkels Regierungsbilanz und -ansehen waren beeindruckend, ihre Plakate hübsch anzusehen, aber zündende Zukunftsideen fanden sich auch bei ihr bestenfalls im Kleingedrucktem. Anders als 2013 reichte ihre Regierungskunst allein nicht mehr aus. Dabei war eine offene rechte Flanke wohl nicht das Hauptproblem, andernfalls wären die Liberalen nicht die Hauptprofiteure des Unionswahlkampfes geworden. Nein, sowohl Sozial- und Christdemokraten hatten versäumt, rechtzeitig programmatisches Profil zu entwickeln. Programmatik ist der Kitt von Volksparteien und programmatisches Profil ist kein billiger Abklatsch faktenfreier Marktschreier. „Klartext reden“ heißt nicht, andere zu diffamieren oder populäre Irrwege aufzuzeigen, sondern überzeugende Lösungswege zu erarbeiten. Nicht ohne Grund reagieren Facharbeiter derzeit am Empfindlichsten auf politische Untätigkeit. Sie spüren als Erste die wachsende Unsicherheit und Ungleichheit, die die wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche weltweit mit sich bringen. Sie erwarten von der Politik zurecht Zukunftsantworten.

      Sozial- und Christdemokraten konnten gerade in politisch hoch aufgeladenen Zeiten Wahlen für sich entscheiden, weil sie ein ansprechendes Narrativ entwickelte, das Gräben innerhalb der Lager zuschüttete und einen ansprechenden Politikmix für breite Bevölkerungsschichten anbot. Diese Übung ist nicht zuletzt durch die Idee des asymmetrischen Wahlkampfes und einer oftmals proklamierten Alternativlosigkeit der Politik ausgehebelt worden. Wenn nicht mehr Wählermaximierung, sondern Koalitionsbildung im Vordergrund steht, verlieren Volksparteien ihr Lebenselixier: der Wettkampf um möglichst viele und breite Wählergruppen. Möglichst viele Wählergruppen durch Themenbündel zu binden, ist die eigentliche Aufgabe von Volksparteien.

      Sprachlosigkeit der Volksparteien überwinden

      Dabei sichert eine erfolgreiche Wählerbindung nicht nur den Machterhalt. Lebendige Volksparteien sind auch für die Stabilität des politischen Systems entscheidend, da ihr Ansatz inklusiv, nicht spaltend ist. Es zwingt die Funktionärsschicht, sich mit der Bevölkerung auseinanderzusetzen und anders als in Massenparteien oder Honoratiorenparteien nur Politik für eine bestimmte Klientel zu betreiben.

      Die Flüchtlingspolitik ist daher sicherlich eher ein Symptom, denn die Ursache für das schlechte Abschneiden der Volksparteien. Sicherlich war im Bezug zur Flüchtlingskrise der Kurs der Kanzlerin zu umstritten, zu tief war der Riss zwischen den Unionsschwerstern schon gegangen und zu unklar war bei alldem, was eigentlich die Sozialdemokraten wollten, als dass das Thema keinen Effekt auf den Wahlerfolg gehabt haben hätte können. Überraschend war jedoch, dass die Regierungspolitik nicht programmatisch abgefedert wurde. Nicht nur wurden politische Forderungen sofort von einer Sach- zu einer Machfrage hochgezoomt, auch wurde sie programmatisch nicht flankiert. Zwar gab es diverse Regierungsprogramme auf den unterschiedlichen politischen Ebenen, die meist äußerst erfolgreich anliefen, aber eine umfassende Debatte, was dieses Großereignis für das Land bedeutet und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien, fand nicht statt. Aus einer linken oder rechten Politik wurde eine gute bzw. böse. Ein verbindendes Element innerhalb des eigenen Lagers wurde kaum gesucht, geschweige denn durchbuchstabiert. Ein umfassender programmatischer Neuansatz von CDU und SPD zur Integrationspolitik blieb dabei aus. Er fehlt bis heute. Weniger ihre Regierungspolitik, sondern ihre eigene programmatische Sprachlosigkeit fiel den Volksparteien am Wahltag auf die Füße.

      Diese Sprachlosigkeit ist eine Folge der organisatorischen Richtungslosigkeit, da die Parteitage allein routinierte Antragsberatungen kennen, aber keinen Programmaufbruch mehr zulassen. Dabei haben Formelkompromisse noch nie einen besonderen Sexappeal auf die Wählerschaft ausgelöst. Innovationen wurden in den Parteien aber immer durch neue Anhänger ausgelöst. Diese neuen Ideenlieferanten fehlen den heutigen Volksparteien. Die Volksparteien sind organisatorisch in die Jahre gekommen. Gerade wenn der Volksparteiidee erhalten werden soll, müssen sich die Volksparteien organisatorisch erneuern. Die wirklich erfolgreichen Wahlkämpfe wurden in den vergangenen Jahren, bspw. in Frankreich, aber auch in den USA, mehr durch Wählerallianzen, denn durch etablierte Parteistrukturen erzielt. Die lange verkannte Frage in deutschen Volksparteien lauten nicht, wie bekomme ich in meinen Ortsverband mehr Mitglieder, sondern wie binde ich neue oder bereits verlorene Wählerklientele ein. Volksparteien müssen sich daher von Mitgliederparteien hin zu Wählerallianzen öffnen. Dafür gibt es nicht den einen Weg: Am radikalsten ist sicherlich Macron vorgegangen, der sich schlicht seinen eigenen Apparat schuf. Aber auch Tony Blair in den 1990er Jahren oder heute Sebastian Kurz haben mit Wählerallianzen, die eine Volkspartei jeweils als zentralen Kern beinhalte, ihre Wählerschaft verbreitert. Bestimmend dabei war, Neugierde für programmatische Innovationen zu wecken. Deutschland braucht keinen weiteren Mehltau. Deutschland braucht Neugierde statt Stabilität. Das ist die Lehre aus 2017.

      57% – Wie Deutschland nach rechts rückte, seine Bürger aber nicht. Ein kritischer Rückblick. Und fantastischer Ausblick.

      Jana Faus / Rainer Faus

      57% der Deutschen sehen sich


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