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Wahlanalyse 2017. Mario VoigtЧитать онлайн книгу.

Wahlanalyse 2017 - Mario Voigt


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Urnengang.

      Wer im Wahlergebnis der Linkspartei eine Aussage über die Wirkungen von Regierungsbeteiligungen ablesen möchte, wird nicht fündig werden. Während DIE LINKE in Thüringen und Brandenburg spürbar hinter die Zweitstimmenergebnisse von 2013 zurückfallen – wie im übrigen Ostdeutschland auch – kann DIE LINKE in Berlin zulegen, wird hinsichtlich der Zweitstimmen vor der SPD zweitstärkste Kraft und in den Bezirken Mitte und Pankow stärkste Kraft.

      Was sich in den Ergebnissen Ost ablesen lässt ist eine durch die AfD verschärfte Konkurrenz um die ehemaligen Hochburgen der Partei, in Thüringen z.B. in Städten wie Gera. Gewann DIE LINKE dort bei der Landtagswahl 2014 die beiden Direktmandate, erringt die AfD sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen den Spitzenplatz. Gleiches lässt sich in den früheren Berliner Hochburgen Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg feststellen und setzt damit einen Trend fort, der bei der Analyse der Abgeordnetenhauswahl in Berlin bereits festgestellt wurde. Dort verlor die Partei in den alten PDS-Hochburgen, die überwiegend die ehemaligen Hochburgen der DDR-Dienstleistungsklasse repräsentierten, während sie mit der sozialen Frage „Wem gehört die Stadt?“ in Milieus und Strukturen mobilisieren konnte, die bislang nicht direkt gewonnen werden konnten. Diese Entwicklung wird weiter zu betrachten sein und sollte mit einer vergleichenden sozialräumlichen Analyse der Hochburgen-West verknüpft werden.

      Während der Anteil ehemaliger Wählerinnen und Wähler unter den aktuellen Anhängern der AfD eher gering ist, ist die Abwanderung von der LINKEN zur AfD für die LINKE ein durchaus größeres Problem gewesen. Mit Blick auf die Verluste bei Arbeiter/-innen und Wähler/-innen mit einer nichtakademischen Ausbildung und bei Vergleich mit der sozialen Struktur der PDS-Wähler/-innen ist die These plausibel, dass es vor allem traditionelle sozialdemokratische Wähler und Wählerinnen waren, die von 2005 bis 2010 zur Linken kamen und ab 2011 wieder wegzubleiben begannen und teilweise jetzt die AfD wählen.

      Strategisch wird es DIE LINKE in den kommenden Jahren schwer haben. Eingeklemmt zwischen der AfD und der SPD kann sie versuchen, beide zu überbieten oder mit der SPD auf der Basis gemeinsamer Grundwerte an der Bildung von Projekten zu arbeiten, für die mit den Themen: demokratisches Gemeinwesen, Verhinderung von Altersarmut, zukunftsfähige Weiterentwicklung des Mindestlohns und Gewährleistung der Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur die Grundlinien bereits feststehen.

      „Wer, wie was – wieso, weshalb, warum…“ – von der „Ausschließeritis“ zu „(Almost) Anything Goes“ im deutschen Parteiensystem

      Dr. Martin Florack

      Nie war „taktisches Wählen“ so schwer und auch so sinnlos wie bei dieser Bundestagswahl. Sinnlos, weil das geltende Wahlsystem die realpolitischen Konsequenzen eines taktischen Stimmensplittings faktisch einebnet. Möglicherweise entstehende Überhangmandate werden ausgeglichen, einzig und alleine der Zweitstimmenanteil entscheidet seit 2013 über die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Anders hatte das noch 1994 ausgesehen: Die von der Union errungenen 12 Überhangmandate (gegenüber vieren auf Seiten der SPD) machten aus einer knappen Zwei-Stimmen-Mehrheit eine vergleichsweise komfortable von zehn Mandaten und ermöglichten damit die stabile Fortsetzung der schwarz-gelben Regierungskoalition unter Helmut Kohls Führung. Von einer „Leihstimmenkampagne“ zwischen Union und FDP konnten so noch beide profitieren. Der nun geltende Ausgleichsmechanismus führt angesichts der Dynamik des Parteiensystems zu vollkommen neuen Herausforderungen und zu geringeren Anreizen für taktisches Splittingverhalten. Dass die Wähler diese neuen Botschaften des Wahlsystems durchaus verstanden haben, zeigen die wachsenden Erststimmenanteile der kleinen Parteien. Auch hier folgt man nun stärker Parteineigungen. Während der Zweitstimmenanteil der beiden (ehemaligen) Volksparteien auf gerade einmal 53,5 Prozent der Stimmen schmolz, verteidigten sie ihre Rolle als Platzhirsche bei den Direktkandidaten. Daran ändern auch die insgesamt neun Direktmandate für AfD, Linkspartei und Grünen nichts. Eine nichtintendierte Nebenfolge dieser Verschiebungen ist jedoch das Anwachsen der Mandatszahl im neuen Bundestag auf 709.

      Besonders schwer war die Wahlentscheidung 2017 aber für viele Wähler auch, weil die Parteien es ihnen diesmal besonders schwergemacht haben: Erstmals gingen alle Parteien ohne jede Koalitionsaussage in die Wahlkampfauseinandersetzung. Nach vorhergehenden Wahlkämpfen im Zeichen der „Ausschließeritis“ zeigten sich die Parteien nun für beinahe alle Koalitionsmodelle offen. Die Rolle des Paria im Parteiensystem blieb alleine der AfD vorbehalten. Alle übrigen Parteien hatten eine Zusammenarbeit mit ihr ausgeschlossen, während die SPD auf Bundesebene erstmals einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei keine klare Absage erteilt hatte. Diese Entwicklung passt zur besonderen Dynamik des Parteienwettbewerbs in den Ländern: In den 16 Ländern gibt es aktuell 13 unterschiedliche Koalitionsformate. Die Zeiten einer klassischen Lagerpolarisierung sind auf Länderebene schon länger vorbei – Ausnahmen bestätigen diese Regel. Das Ergebnis auf Bundesebene ist gleichwohl paradox: Während bei vorangegangenen Wahlen rechnerische Mehrheiten (z.B. aus SPD, Grünen und Linkspartei) wegen wechselseitiger Absagen der Parteien unmöglich wurden, führte die neue Offenheit auf dem Koalitionsmarkt dazu, dass nicht die Wähler, sondern die Parteien das Ergebnis dieser Bundestagswahl bestimmen. Mehr noch: Die Absage an tradierte Koalitionsaussagen führt in Kombination mit einem volatileren Wählerverhalten gerade dazu, dass ungewöhnliche und klassische Lager übergreifende Bündnisse notwendig werden und sich die Lagerpolarisierung des Parteienwettbewerbs 2017 faktisch erledigt hat. Darauf deuten auch die Analysen zu den Wählerwanderungsbewegungen hin. Die vormals wie kommunizierende Röhren funktionierenden Lagerdynamiken (z.B. Austauscheffekte zwischen CDU und FDP, SPD und Grünen) sind 2017 nicht mehr erkennbar.

      Das wiederum eröffnet zwar den Parteien neuen taktischen Spielraum, macht das Wählen für die Wähler aber mit Blick auf die Regierungsbildung zu einer echten Lotterie. Denn die Antwort auf die für viele Wähler durchaus wichtigen Fragen, ob sie mit ihrer Stimme eine Regierung abwählen oder ins Amt wählen können und wer künftig Kanzler wird, können sie bei der Stimmabgabe immer weniger voraussehen. Auch in der Schlussphase des Wahlkampfest 2017 hat keine der Parteien hierauf mit einer späten Koalitionsaussage reagiert.

      Ein paar Beispiele: eine Wahlentscheidung zugunsten der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz und ein gegenüber 2009 und 2013 verbessertes Wahlergebnis hätten möglicherweise die Bereitschaft der Sozialdemokraten erhöht, erneut in eine Große Koalition einzutreten, damit jedoch die Kanzlerschaft von Angela Merkel verlängert. Die Wähler der AfD machten angesichts des Vorsprungs der Union gegenüber der SPD mit ihrer Stimme die Fortsetzung von Angela Merkels Kanzlerschaft wahrscheinlicher, weil sie die dominante Rolle der Union im Parteiensystem indirekt stärkten. Eine Stimme für die Grünen konnte eine Stimme für eine künftige Oppositionspartei oder eine von Angela Merkel oder Martin Schulz geführte Koalition sein. Aber auch die mutmaßlich taktisch motivierte Entscheidung von Wählern, angesichts des wahrgenommenen Vorsprungs der Union gegenüber der SPD bei der Stimmabgabe zugunsten einer kleinen Partei Koalitionssignale zu senden, konnte die Union mit einem schlechteren Ergebnis schwächen und damit ihre dominante Stellung unterminieren. Kurzum: die zahlreichen neuen Optionen der Wähler an der Wahlurne im neuen Mehrparteiensystem werden erkauft mit der immer geringeren Einflussnahme auf die Regierungsbildung. Ob in der Folge die Eigenständigkeit der Parteien oder neue Demobilisierungseffekte befördert werden, bleibt abzuwarten.

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