Lord Jim. Joseph ConradЧитать онлайн книгу.
zu retten. Der einzige deutliche Gedanke, der in seinem Hirn Gestalt annahm, schwand und wiederkam, war: achthundert Menschen und sieben Boote; achthundert Menschen und sieben Boote.
»Jemand sprach laut in meinem Kopf«, sagte er beinahe wild. »Achthundert Menschen und sieben Boote – und keine Zeit! Man denke!« Er beugte sich über den kleinen Tisch hinweg zu mir vor, und ich suchte seinem Blick auszuweichen. »Glauben Sie, daß ich mich vor dem Tod fürchtete?« fragte er mit eindringlicher, leiser Stimme. Er schlug mit der offenen Hand auf den Tisch, daß die Kaffeetassen tanzten. »Ich kann beschwören, daß ich es nicht tat... bei Gott, nein!« Er gab sich einen Ruck und kreuzte die Arme; das Kinn sank ihm auf die Brust.
Durch die hohen Fenster klang das Klappern von Tafelgeschirr schwach zu uns herüber. Stimmen wurden laut, und einige Männer kamen in gehobener Stimmung in die Galerie heraus. Sie tauschten spaßhafte Erinnerungen über die Esel in Kairo. Ein blasser, ängstlicher Jüngling, der behutsam auf langen Beinen einherkam, wurde von einem rundlichen, protzigen Weltreisenden wegen seiner Einkäufe im Basar aufgezogen. »Nein, wirklich – glauben Sie, daß man mich so übers Ohr gehauen hat?« fragte er ernsthaft und bedächtig. Die Musikkapelle entfernte sich, Streichhölzer leuchteten auf und beschienen einen Augenblick geistlose Gesichter und mattglänzende weiße Hemdbrüste. Das vielfache Gesumm angeregter Tischgespräche klang mir sinnlos und unendlich fern.
»Ein Teil der Mannschaft schlief neben der Luke Nummer eins, meinem Arm erreichbar«, begann Jim von neuem.
Ihr müßt nämlich wissen, die Wachen auf dem Schiff waren so eingeteilt, daß alle Mann die Nacht durchschliefen und nur die gerufen wurden, die die Rudergasten und den Ausguck abzulösen hatten. Jim war versucht, den am nächsten liegenden Laskaren bei der Schulter zu packen, doch er tat es nicht. Etwas lähmte seinen Arm. Er fürchtete sich nicht – o nein! Er konnte eben nicht – das ist alles. Er fürchtete sich vielleicht nicht vor dem Tode, aber, wenn ich nicht irre, so fürchtete er sich vor all dem, was ihm vorangehen mußte. Seine vermaledeite Phantasie hatte ihm das ganze Grauen einer Panik vor Augen gestellt, das wilde Getümmel, die entsetzlichen Hilferufe, die vollgeschlagenen Boote – all die fürchterlichen Zwischenfälle einer Schiffskatastrophe, wie er sie so häufig hatte schildern hören. Es mag sein, daß er entschlossen war, zu sterben, aber er wollte ohne Schrecknisse sterben, in Ruhe, in einer Art friedvoller Ekstase. Eine gewisse Bereitschaft zum Untergang ist nicht so sehr selten, selten aber sind die Männer, die, mit dem undurchdringlichen Panzer des Entschlusses gewappnet, willens sind, eine verlorene Schlacht bis zum Letzten auszukämpfen. Die Sehnsucht nach Frieden wird stärker, je mehr die Hoffnung abnimmt, bis sie zuletzt selbst den Willen zum Leben besiegt. Wer von uns hier hat nicht schon dieses Aller-Erregung-Müde-Sein, das Vergebliche des Bemühens, das heftige Verlangen nach Ruhe beobachtet, wenn nicht am eigenen Leib erfahren? Solche, die mit unberechenbaren Gewalten zu kämpfen haben, kennen es wohl – die Schiffbrüchigen in Booten, die in der Wüste verlorenen Wanderer, alle, die sich gegen die vernunftlosen Naturmächte oder die blöde Roheit der Menge zur Wehr setzen mußten.
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