Das Wunder Mozart. Harke de RoosЧитать онлайн книгу.
argumentierte, dass
eine schwache, ständig von der Gefahr der Auflösung bedrohte Türkei für Österreich ein weit angenehmerer, weil ungefährlicherer Nachbar wäre als das ehrgeizige, expansionslüsterne Russland.
Leopold konnte seinen Bruder nicht davon abhalten, die Türkei anzugreifen und Joseph konnte nicht verhindern, dass Leopold in seinem Land die Armee ganz abschaffte. Dennoch ist der Konflikt zwischen den Brüdern für uns interessant, denn genau zu dem Zeitpunkt, an dem er unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgefochten wurde, fand die Uraufführung von Mozarts türkenfreundlichem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ statt, zudem noch in Josephs eigenem Theater. Dazu gilt es zu bedenken, dass der Intendant der kaiserlichen Theater, Leopolds ehemaliger erster Minister Franz Xaver Orsini-Rosenberg, dem Komponisten das Buch zur Oper angetragen hatte und dass der Besuch des russischen Thronanwärters Paul Anlass zum Kompositionsauftrag gab. Paul wollte zur Besiegelung der gemeinsamen Angriffsabsichten nach Wien kommen. Hinter der zeitlosen Schönheit der Bühnenwerke Mozarts steckte nicht selten eine ganz und gar zeitgebundene Aktualität, die manchmal hochpolitische Aspekte enthielt. So sind in der „Entführung“ unverhohlene Seitenhiebe auf die Regierungspolitik Josephs versteckt. Die Schlussansprache des Großmoguls Bassa Selim kann man getrost als moralische Ohrfeige für Kaiser Joseph auffassen. Jedenfalls wird in diesem Lichte verständlich, warum das kaiserliche Lob für die Oper ein wenig sauer klang und weshalb die Premiere verschoben wurde.
Ein sympathisch anmutender Zug im Charakter Josephs bestand darin, dass er, obwohl er keinen Widerspruch duldete, trotzdem gut Kritik einstecken konnte. Die vielen Pamphlete, in denen seine Politik kritisiert und seine Person verspottet wurde, scheinen ihn eher amüsiert als geärgert zu haben. Was man auch über ihn sagen kann, nachtragend war er nicht. Außerdem ist zu vermuten, dass sein musikalischer Geschmack viel besser war als die Geschichtsschreibung uns suggerieren will.
Ein seltsamer Zug im Charakter des Kaisers war seine Vorliebe für das Militär. Offensichtlich hatte der Monarch das Bedürfnis, dem ruhmreichen preußischen Gegner Friedrich dem Großen, den er sehr bewunderte, den Rang abzulaufen und auf dem Schlachtfeld Trophäen zu sammeln. Es kann aber ebenso gut sein, dass er auch auf diesem Gebiet den Tod herausfordern wollte und auch dort die Konfrontation mit dem Jenseits suchte. Aber ob nun so oder anders, jedenfalls steht fest, dass er für das Kriegshandwerk denkbar untauglich war. Wo Joseph als höchster Kriegsherr auf dem Kriegsschauplatz erschien, folgte das Chaos auf dem Fuß. Entweder fand die Schlacht gar nicht statt, wie beim bayerischen Feldzug 1778, oder sie wurde aus Schrecken vor den veranschlagten Opferzahlen zögerlich und dilettantisch durchgeführt, so zum Beispiel im Türkenkrieg zehn Jahre später. Letztgenannter Krieg wurde Joseph zum persönlichen Verhängnis, indem er sich auf dem Schlachtfeld mit einer tödlichen Krankheit infizierte.
Trotz unterschiedlicher Auffassungen schien das äußere Verhältnis zwischen den beiden Brüdern bis kurz vor Josephs Tod gut und herzlich. Nur den geheimen Aufzeichnungen Leopolds ist zu entnehmen, wie sehr Leopold die gewaltsamen Züge Josephs und dessen rastlose, unkoordinierte Arbeitsweise hasste. Joseph dagegen hat sich immer voller Stolz und Bewunderung über den Bruder ausgelassen, aber konnte, wie schon erwähnt, einen gewissen Neid, vor allem auf dessen prosperierendes Familienleben, nicht verhehlen.
Gegen diesen Hintergrund ist zu verstehen, dass Joseph die Order erließ, alle Kinder Leopolds, also nicht nur den Thronanwärter Franz, ab dem 16. Lebensjahr zur Ausbildung nach Wien zu schicken. Durch diesen Befehl traf er Leopold, der seine Kinder über alles liebte, mitten in die Seele. Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte Joseph den Nerv gefunden, mit dem er seinen Bruder wirklich verletzen konnte, zumal aus der betreffenden Anordnung eine für Leopold kaum erträgliche Geringschätzung gegenüber der Toskana sprach.
In seinem letzten Lebensjahr wurde Joseph die Rechnung für diese Handlungsweise präsentiert, indem Leopold sich gegen die Politik seines Bruders kehrte. Nachdem Joseph Ende 1788 desillusioniert und krank vom Türkenfeldzug zurückgekehrt war, entglitt ihm in wachsendem Maße die Kontrolle über die Monarchie. Die Berichte über den alarmierenden Gesundheitszustand des Bruders veranlassten Leopold, die Arbeit am toskanischen Verfassungsprojekt wieder aufzunehmen, in der Erwartung, diese Pläne bald auf das ganze Reich anzuwenden. Auch versuchte der Großherzog, den belgischen Ständen in verdeckten Botschaften klarzumachen, dass er die zentralistische Politik des Kaisers nicht billige und dass er, wenn er an die Macht käme, ihre alte Würde wiederherstellen würde. Dieser Versuch kam jedoch zu spät. Am 12. Dezember 1789 brach ein Volksaufstand in Belgien aus, der zur überstürzten Flucht der kaiserlichen Behörden aus Brüssel führte. Sogar Joseph hielt nun die österreichischen Niederlande für immer verloren, zumal die Aufständischen von Preußen, England und Holland unterstützt wurden.
Auf dringendes Anraten Leopolds gab Joseph den ebenfalls aufbegehrenden Ungarn das Versprechen, ihnen ihre ständische Verfassung wiederzugeben und die Stephanskrone zurückzusenden. Dieses Nachgeben rettete in letzter Minute die Monarchie vor einem Auseinanderbrechen in der Mitte. Nichtsdestoweniger blieb die Lage dramatisch. Die ungarischen Stände waren keineswegs besänftigt. Sie wurden unterstützt von Preußen, das sich wieder einmal auf einen Krieg mit Österreich vorbereitete. Der Ausbruch dieses Krieges wurde für den Frühling 1790 erwartet und schien so gut wie sicher. Auf dem Balkan herrschte noch immer Kriegszustand, weil noch kein Friedensschluss mit der Türkei geschlossen war.
Kurz vor seinem Tod lud Joseph seinen Bruder per Brief ein, nach Wien zu kommen und im Reich die Mitregentschaft zu übernehmen, was tiefe Bestürzung bei Leopold auslöste. Seiner Schwester in Brüssel schrieb er, dass er zwar nach Wien gehen würde, sich aber nicht als Mitregent in die Staatsgeschäfte Josephs hineinziehen lassen wolle,
denn wenn ich zeige, dass ich vor den Augen der Öffentlichkeit und der fremden Höfe daran teilnehme, so würde ich den Anschein erwecken, als huldigte ich den gleichen Prinzipien und Systemen wie Seine Majestät und billigte alles, was gemacht worden ist; und ich verscherzte für immer meinen guten Ruf und das Vertrauen der Höfe und der Öffentlichkeit und würde den Staatsgeschäften einen großen Schaden zufügen, ohne den geringsten Nutzen.
Zwei Tage, nachdem Leopold diesen Brief an Christine verfasst hatte, am 20. Februar 1790, starb der Kaiser. Die Nachricht seines Todes traf am 25. Februar in Florenz ein. Vier Tage später brach Leopold auf zur
schwersten, geschichtlich bedeutsamsten Aufgabe seines Lebens,… zur Errettung und Sicherung der österreichischen Monarchie, die sein soeben verstorbener Bruder durch eine von den besten Absichten getragene aber unglückliche Politik an den Rand der Katastrophe und Auflösung gebracht hatte.
(Wandruszka)
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