3000 Plattenkritiken. Matthias WagnerЧитать онлайн книгу.
Crazy Horse auf den Boden der (Gitarren-)Realität zurückholen … Ja, Neil Youngs 78er-Konzept brachte die melancholischen Folkattitüden seiner frühen Jahre mit der Schrottästhetik des Punk zusammen. Ein kühner Spagat, der ihm das Bekenntnis „I am a Child“ genauso ermöglichte wie die Vergötterung Johnny Rottens („Hey hey my my“). Das war zweifellos die Initialzündung dafür, was später unter den Labels Noise und Grunge boomen sollte. Gegenüber der Platte „Live Rust“, die das gleiche Konzertereignis repräsentiert, wartet der Film übrigens mit einem zusätzlichen Stück auf: „Welfare Mothers“.
Neil Young & Crazy Horse
„Sleeps with Angels” (1994)
Schon oft bezog Neil Young seine Themen aus Erfahrungen des Todes, und seine besten Alben (wie „Tonight’s the Night“ von 1975) verarbeiteten Schocks. Auch seine neue CD ist so – eine offene Wunde. Unterm Eindruck von Kurt Cobains Tod versammeln die meditativen Songs Szenen von Verlusten – an urbaner Sicherheit, an Liebe und Leben. Skizzen ohne Geschichten, eindringliche, manchmal episch lange Klangzustände im Bluesduktus, welche die Rockurviecher Crazy Horse in eine verhaltene Stille zwingen. Den Vulkanausbruch gestattet Young ihnen nur in „Piece of Crap“ – wofür sie sich dann bei Ian McNabb schadlos halten. Drei Songs nahm der Exsänger von Icycle Works mit Crazy Horse auf, und nun ersäuft der Arme in diesem Sound aus Sägezahngitarren und gepeitschten Drums. Für den Rest der CD übernimmt leider er das Kommando, was dann überwiegend im soßig Seichten endet. Eine CD, deren seltsam extremes Spektrum nicht Stärke verkörpert, sondern Orientierungslosigkeit.
Nick Cave & The Bad Seeds
„Let Love in” (1994)
Liebe ist der Himmel, Liebe ist der Abgrund. Am Anfang fragt er besorgt, aber im Bewusstsein, selbst einen Trumpf im Ärmel zu haben: „Do you love me/like I love you?“. Am Ende spart sich Cave den Vergleich, es regiert die lauthalse panische Verlustangst: „DO YOU LOVE ME?“. Dazwischen liegen acht Songs, in denen der Australier das Thema erschöpfend und bis zur Erschöpfung auslotet. Conway Savages Klavier- und Orgelspiel gibt manchen Songs (wie „Red right Hand“ oder „Do you love me?“) eine bebende Spannung, die man zuletzt vor fast einem Vierteljahrhundert im Doors-Klassiker „Riders on the Storm“ gehört hat. Dazu raunt die Band einen romantisch-morbiden Backgroundchor. „Thirsty Dog“, ein makabrer Gruftcountry, schraubt sich – angespornt von überdrehten Drums und Caves manischem Gesang – hoch in eine Spirale des Irrsinns. Und die Ballade eines Verlassenen, „Ain’t gonna rain anymore“, ist keine tränenreiche, selbstverliebte Klage, sondern Ausdruck einer Lähmung, eines Betäubtseins jenseits von Schmerz und Wut. Caves Metaphorik spielt dabei mit dem eigenen Image genauso wie mit tradierten Popklischees: Bill Withers verglich umfassendes Liebesleid noch mit dem endgültigen Rückzug der Sonne, Cave kehrt das Bild ins Gegenteil – der Regen versiegt für immer. Eine Platte mit mächtigen dunklen Sounds, voll großer Gefühle und Gesten – so intensiv wie eine Stunde im Himmel und eine in der Hölle.
Peter Gabriel
„Secret World live” (1994)
Als Best-of-Sammlung könnte dieser Doppelpack durchgehen, mischte sich nicht zwischen die Stücke das Volk mit störendem Geklatsche. Gabriel ist zweifellos ein kreativer und weltoffener Popkünstler, doch er ist auch sehr langsam. Drum drängt sich der Verdacht auf, dieses Livedoppel sei ein üppiger Lückenbüßer zwischen zwei Studioalben, für die Gabriel gemeinhin eine halbe Dekade braucht. Er hat sich der Sache lustlos entledigt – mit perfekten, doch seelenlosen Arrangements. Musterbeispiel dafür, wie er alle Chancen auslässt, die ein brillantes Ensemble (darunter Manu Katché und Shankar) ihm eigentlich bietet: der elf Minuten lang langweilig plätschernde Rausschmeißer „In your Eyes“.
Pink Floyd
„The Division Bell” (1994)
Zeigt mir eine neue Idee auf dieser Platte, und ich zeige euch einen Lügner – oder ein Opfer totaler Amnesie. Es beginnt mit einem „Crazy Diamonds“-Klon, geht weiter mit einem „Echoes“-Klon und endet irgendwann, nach einem Stückchen „Wall“, mit dem geklonten Akustikgitarrensound aus „Wish you were here“. Der schleppende Schwabbelsound wird wie ehedem von femininem Background-„Ahuuuu“ untermalt, ein „Dark Side …“-Sax kommt zum Zug, und Gilmours Gitarre scheint aus dem eigenen Backkatalog gesampelt. Irgendwo in England sehe ich einen wutbleichen Roger Waters fluchen über die Schamlosigkeit, mit der die Exfreunde eine gemeinsame Vergangenheit als wohlfeilen Steinbruch missbrauchen. Künstlerisch weitgehend wertlos, ist die CD indes – dank des Produzenten Bob Ezrin – klanglich ein Genuss.
Primal Scream
„Give out but don’t give up” (1994)
„Screamadelia“ (1991) gilt als Meilenstein, weil gute Songs im Schmelztiegel von Dance und Rock zum Prototyp künftigen 90er-Rocks verkochten. All die so gewonnenen Fans bügelt Primal Scream jetzt schroff ab: mit einer schockierenden Retroscheibe. Mastermind Bobby Gillespie übersetzte sein Bedürfnis, eine „ernste, fast traurige Platte“ zu schreiben, konsequent in rockhistorische Nostalgie. Lupenreiner R’n’B („Rocks“) steht neben Muscle-Shoals-Funk oder akustischen Schnulzen („Cry myself blind“). Die CD mutet an wie ein verschollenes Mittsi-70er-Album der Stones – mit Lenny Kravitz als Produzenten. „Ich will nicht sagen, dass ich erwachsen geworden bin“, sagt Gillespie, „aber vielleicht … weise?“ Das ist übertrieben. Er schließt einfach eine Lücke, die „Screamadelia“ noch per Spagat ignorierte. Demnächst aber muss es wieder voran gehen, das schuldet Gillespie seinem Talent.
R.E.M.
„Monster” (1994)
Mandoline und Akustikklampfe? Ab damit ins Exil. Um zu beweisen: Wir, R.E.M, sind keine Weicheier. Also lässt es die größte US-Band wohldosiert krachen und wimmern, und Michael Stipes Stimme verkriecht sich fast im rohen Rock, der nur selten von besänftigender Orgel oder kontrapunktischen Frauenstimmen („Bang & blame“) aufgeweicht wird. Die atemberaubende Melodik der letzten Alben ist perdu, Sound und Energie sind ihnen (diesmal) wichtiger. So bekommen die jungen R.E.M-Fans, was sie niemals wollten: den Verweis auf die wilden frühen Jahre der Band. Dennoch ist „Monster“ allenfalls Grunge light; ganz und gar wollen die Vier aus Athens/Georgia ihr Poppublikum halt doch nicht verprellen.
Robert Forster
„I had a New York Girlfriend” (1994)
Wie waren ihre Tage und Nächte im Central Park? Wo liebten sie, worüber weinten sie? Und woran zerbrach ihre Liebe? Mit einer schlichten Zeile, dem Albumtitel „I had a New York girlfriend“, schickt der Australier Robert Forster unsere melancholische Fantasie auf Reisen, ahnt Wehmut und Nostalgie herbei – ein kleines Kunststück an atmosphärischer Verdichtung vorab, das bittersüße Erinnerungen in uns allen weckt. Und durchweg ist es da, dieses mühelos beschworene Fluidum, in all den zerbrechlichen und sehr melodiösen Songs, die andere dem sanften Sänger schrieben. Und für die Songs von Bob Dylan oder Keith Richards bedankt er sich auf seine Weise: mit zarten Interpretationen, hingetupft wie blasse Aquarelle auf New Yorker Bürgersteige – in der Hoffnung vielleicht, die Liebe von einst möge vorüberkommen, innehalten und sich lächelnd seiner entsinnen: „I had an Australian Boyfriend“.
Skyclad
„Prime of the Poverty Line” (1994)
Wer auf Rubrizierungen aus ist, mag es Folkmetal nennen. Eine quirlige Geige übernimmt Aufgaben, die traditionell der E-Gitarre vorbehalten waren, oder sie begleitet die laute Schwester synchron. Dennoch ist die Musik von Skyclad kompromisslos hart (obgleich sogar die von Metallern oft verpönten Keyboards eingesetzt werden) – was vor allem dem Furor aus Schlagwerk und überkandideltem Gesang zu verdanken ist. Es klingt, als hätte man englischen Jigs & Reels eine Edelstahlglasur verpasst. Überraschende Orgelsounds,