3000 Plattenkritiken. Matthias WagnerЧитать онлайн книгу.
führt die Hamburger Band uns in die Irre. Dass ihnen so Fans entgehen – wurschtegal, Hauptsache, das Schubladendenken kriegt sein Fett weg. Denn musikalisch haben sie mit Disco nichts am Hut. Dafür aber viel mit beseeltem Glampunk, mit hinreißenden Melodien und hibbeliger Spielfreude. Die Stimme von Stefan Oliver Knoess klingt oft gedämpft und fern, als wehte sie herüber aus der Vergangenheit. Und von dort haben sie auch das sporadische Hawkwind-Synthiezirpen, das ihren Stil in den 70ern verankert. „Put the Blame on me“ dagegen ist die knackige Aktualisierung eines 50er-Klassikers (Eddie Cochrans „Summertime Blues“) – und trotz seiner Fulminanz noch nicht das stärkste Stück: Das ist „Surface“. Hört es und vergesst Green Day.
Elvis Costello
„Kojak Variety” (1995)
Selbst wenn er diese Coverplatte nur gemacht hätte, weil er momentan nicht selber mit der Muse schmust: Es ist eine gute Platte. Costello ehrt die R’n’B-Vorbilder, deren Meisterstücke und Raritäten er sich vorknöpft. Mit einer fantastische Begleitband – darunter der Gitarrist Marc Ribot, die Drumlegende Jim Keltner und der Wurlitzer-Virtuose Larry Knechtel – spielt er Willie Dixon, Burt Bacharach oder Jesse Winchester und hängt sich keuchend und schluchzend rein wie einer, der endlich mit eigenen Songs erhört werden möchte. Doch Elvis Costello will in Wahrheit nur eins: uns auf die fieberhafte Suche nach den Originalen schicken. Am leichtesten fällt das bei Dylans „I threw it all away“, das Costello in ein köstliches Procol-Harum-Ballkleid gesteckt hat.
F.S.K.
„Bei Alfred” (1995)
Mal minimalistisch kratzende NDW-Kataströphchen, mal schauerlich krumme Saloonwalzer: F.S.K. haben bewiesen, dass Volksmusik hüben wie drüben des großen Teichs dieselben Wurzeln hat: den Dilettantismus. Alfred Hilsberg gab den amerikophilen Bayern in den 80ern auf seinem Label What’s So Funny About die Gelegenheit, ihr bizarres Spektrum zwischen Elektrowave und verpunkter Dicke-Backe-Mucke, zwischen Lo-Fi-Ästhetik, Hohlphrasenverarschung („Wenn Du in Liebe bist“) und parodistischer Götterverehrung exzessiv auszuleben. Mit 44 Liedern fürs Volk wird diese ehrenwerte Haltung nun auf zwei CDs gewürdigt, die jene Labeljahre bei Hilsberg resümieren. Und wir sind in Liebe.
Faith No More
„Fool for a Lifetime” (1995)
Sie führen feuereifrig vor, wie toll crossover sie sind. Sie hecheln hin und her zwischen Rock, Funk, Metal und wattiger Langsamkeit, ohne zu begreifen, dass acht Ideen pro Sekunde noch lange nicht beweisen, dass auch eine davon gut ist. Nur selten, etwa in der Ballade „Ricochet“, klappt das bierernste Spiel mit den Versatzstücken, weil es locker daherkommt; meist aber endet der Versuch, verschachtelten Metalmainstream zu produzieren, beim Rock-á-Porter. „No reason, no explanation – so play the violins“, heißt es einmal. Dass dies eine Drohung war, erfahren wir mit „Take this Bottle“, wo’s gotterbärmlich trieft.
Francis Cabrel
„Samedi Soir sur la Terre” (1995)
Es gibt Menschen, die immer am falschen Ort sind. Ihre Suche nach dem richtigen führt über schwankende Brücken. Und wenn sie es schaffen, den falschen Ort zu fliehen, macht man hinter ihnen die Schotten dicht, damit sie nie mehr zurückkommen können. Von solchen Menschen singt Cabrel, und vielleicht gehört er selbst dazu. Deshalb überführt er das altgediente Chanson in ein sanftes Bluesidiom, gibt ihm gazehafte Arrangements oder macht Folksongs draus. Und während Cabrel singt und Manu Katché (dr) oder Nicolas Reyes (voc) seine Studioband unterstützen, fragt man sich, warum solch metaphorisches und poetisches Niveau auf Deutsch offenbar nicht (mehr) möglich ist.
Friedemann
„Legends of Light” (1995)
Friedemanns um diverse Gitarren herumgesponnene Instrumentals hatten stets jene Quirligkeit, die ihn vom Gros der New-Age-Klimperer abhob. „Aquamarine“ etwa war brillant produziert und bebte vor jener Spannung, die wattiges Meditieren verhindert. „Legends of Light“ spürt nun multimedial (als Computer- wie Player-taugliche CD-Plus) dem Mythos der Belchenberge nach, die seit jeher zwischen Schwarzwald und Elsaß astronomischer Orientierung dienen. Musikalisch lässt Friedemann es aber seicht plätschern – ein müder Fluss, dem weder Stein noch Fisch die Oberfläche kräuseln. Weniger Ehrfurcht vorm Archaischen und mehr Traute zu gezielten Brüchen hätten den Lichtlegenden gut getan.
Gary Heffern
„Painful Days” (1995)
Das Glitterhouse-Label ist für Songwriter-, Country- und Folkfans ein El Dorado. Beweis: der brillante 80-Minuten-Sampler „Silos & Utility Sheds“. Darauf vertreten ist auch Gary Heffern aus Seattle. Auf seiner dritten CD nutzt er es aus, dass Glitterhouse den Familiengedanken schürt. Alle sind stets bei allen zu Gast, und so entsteht allmählich ein eigener Stil. Bei Heffern spielen Carla Torgerson Cello oder Peter Buck Bouzouki, Larry Barrett schreibt ihm ein Lied. Und zwar ein genauso trauriges, wie Heffern es gemeinhin selber schreibt. Sein Country kommt ohne Glitzer und Stetson aus. In seinem Saloon wabert dunkler Rauch, der die Menschen trennt und zurückwirft auf sich selber. Gefühlsmusik für die Selbsthilfegruppe der Nashville-Geschädigten.
Gil Scott-Heron & Brian Jackson
„Diverse Alben” (1995)
Den urbanen Jazzfunk der 70er bereicherte Gil Scott-Heron mit rabiater Agitation. South Carolina und Südafrika? Für ihn nur graduelle Unterschiede. Zu pulsendem Soul, Funk und Jazz mit expressiven Bläsersoli rezitierte, giftete und sang er, oft unterstützt vom Keyboarder Brian Jackson, gegen Rassismus und Korruption an – ein früher Avantgardist des HipHop und Agitrap, der nie Lösungen oder Hoffnungen bot, sondern vor allem Wut und in den leiseren Momenten allenfalls Resignation. Jetzt gibt es sechs der auf Arista erschienenen Alben auf CD, als japanische Pressungen vom Masterband. Gespart hat man also nicht am Sound, aber an den Booklets (die Texte blieben japanisch …). „Bridges“ (1977) ist die funkigste, „Moving Target“ (1982) die souligste und „1980“ die discotauglichste Scheibe. Alle sechs zusammen sind eine Fundgrube für Rapfans mit Geschichtsbewusstsein – und thematisch noch keine Spur veraltet.
Goldie feat. The Metalheads
„Timeless” (1995)
Der Mann aus Wolverhampton ist ein gefragter Remixer (Massive Attack, Ice Cube) und ein Jungle-König. Doch „Timeless“ ist mehr als eine Zappelvorlage, viel mehr. Es ist ein großes Werk und, wie alle großen Werke, mit den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ nicht zu fassen. Zu sehr lebt es von Kontrasten und Widersprüchen: der erhabenen Soulstimme von Diane Charlemagne, den kuriosen Synthieschlieren zwischen Moby-Seichtheit und Experimentierlust und, vor allem, der furiosen elektronischen Perkussion, die sich loslöst vom Takt, um frei und grotesk Melodien und Stimmen zu umwirbeln, am atemberaubendsten im 20-minütigen Titelstück. Goldie wiederholt sich in der Folge, verwendet ähnliche Klangchiffren und Wirbeldrums noch einmal und immer wieder; dennoch markiert „Timeless“ ein neues Niveau – Breakbeat ist tot, es lebe der Freebeat!
Grateful Dead
„Hundred Year Hall” (1995)
Jerry Garcia ist tot und mit ihm Grateful Dead, das größte Kultobjekt der Rockhistorie. An Dead-Livemusik indes wird weiter kein Mangel sein. Nicht nur die Fans schnitten mit, die Band selber archivierte alle Auftritte – auch jenen vom 26.4.1972 in der Frankfurter Jahrhunderthalle. CD 1 birgt elf Songklassiker in bestechend lockeren Versionen, auf CD zwei erstrecken sich vier psychedelische Reisen über fast 70 Minuten, ohne dass die Songstrukturen ganz verloren gingen. Wenn Solist Garcia mal selbstvergessen davondriftet, holt ihn die Rhythmussektion bald wieder auf den Boden der Bühnenrealität zurück, selbst im 37-Minüter „Cryptical Envelopment“. Ein Livejuwel aus dem Reich der Toten: auch Organist Ron PigPen McKernan