Der Traum. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
nicht antworten konnte.
»Anstatt sie auszufragen«, sagte er, »täten wir besser daran, ihr eine gute Tasse recht heißen Milchkaffee zu geben.«
Das war ein so vernünftiger Gedanke, daß Hubertine sogleich ihre eigene Tasse hinstellte. Während sie zwei große Scheiben Brot abschnitt, blieb das Kind mißtrauisch, wich immer noch zurück; doch die Qual des Hungers war stärker als alles, schließlich aß und trank die Kleine gierig. Um sie nicht zu stören, schwieg das Ehepaar und sah bewegt, wie ihre kleine Hand so sehr zitterte, daß sie den Mund nicht fand. Und sie bediente sich nur der linken Hand, ihr rechter Arm blieb hartnäckig an den Körper gepreßt. Als sie fertig war, hätte sie beinahe die Tasse zerschlagen, die sie gerade noch mit der Bewegung eines Krüppels ungeschickt mit dem Ellbogen festhielt.
»Bist du denn am Arm verletzt?« fragte Hubertine. »Hab keine Angst, zeig mal, mein Herzchen.«
Doch als sie sie anfaßte, erhob sich die Kleine ungestüm und wehrte sich; und bei diesem Ringen bewegte sie unwillkürlich den Arm. Ein kartoniertes Büchlein, das sie auf der bloßen Haut verbarg, glitt durch einen Riß ihres Mieders zu Boden. Sie wollte es schnell wieder an sich nehmen, ballte jedoch vor Wut die Fäuste, als sie sah, daß diese Unbekannten es aufschlugen und lasen.
Es war ein Zöglingsbuch, ausgestellt von der Jugendfürsorge des Departement12 Seine. Auf der ersten Seite waren unter dem Amtssiegel des heiligen Vinzenz von Paul13 folgende Rubriken vorgedruckt: Name des Zöglings, und ein einfacher, mit Tinte gezogener Strich füllte den leeren Raum; dann stand bei den Vornamen: AngéliqueMarie; bei den Daten: geboren am 22. Januar 1851, aufgenommen am 23. desselben Monats, eingetragen unter der Registriernummer 1634. So waren also Vater und Mutter unbekannt, keine Papiere, nicht einmal ein Geburtsschein, nichts als dieses Büchlein, das von verwaltungsmäßiger Kälte starrte, mit seinem Umschlagdeckel aus blaßrosa Leinen. Niemand auf der Welt und eine Eintragung in der Gefangenenliste, die numerierte und klassifizierte Verlassenheit.
»Oh! Ein Findelkind!« rief Hubertine aus.
Da begann Angélique in einem tollen Zornesausbruch:
»Ich bin mehr wert als alle anderen, ja, ich bin besser, besser, besser ... Niemals habe ich den anderen etwas weggenommen, und sie nehmen mir alles weg ... Geben Sie mir wieder, was Sie mir weggenommen haben.«
Ein so ohnmächtiger Stolz, eine solche Leidenschaftlichkeit, die Stärkere zu sein, ließen ihren Körper, den Körper einer kleinen Frau, sich aufbäumen, daß die Huberts davon tief ergriffen waren. Sie erkannten das kleine blonde Mädchen mit den veilchenfarbenen Augen und dem langen, lilienhaft anmutigen Hals nicht wieder. Die Augen waren schwarz geworden in dem bösen Gesicht, der sinnliche Hals war von einer Blutwelle geschwellt. Jetzt, da ihr warm war, richtete sie sich in die Höhe und zischte wie eine aus dem Schnee aufgelesene Natter.
»Du bist also ein schlimmes Kind?« sagte der Sticker sanft. »Es ist zu deinem Besten, wenn wir wissen wollen, wer du bist.«
Und über die Schulter seiner Frau hinweg las er in dem Büchlein, das diese durchblätterte. Auf Seite 2 fand sich der Name der Amme.
»Das Kind Angélique wurde am 25. Januar 1851 der Amme Françoise, Ehefrau des Herrn Hamelin, von Beruf Landwirt, wohnhaft in der Gemeinde Soulanges im Arrondissement14 Nevers, anvertraut; selbige Amme hat bei ihrer Abreise das Pflegegeld für den ersten Monat sowie eine Ausstattung erhalten.«
Es folgte ein vom Anstaltsgeistlichen des Fürsorgeheims unterzeichnetes Taufzeugnis; dann ärztliche Bescheinigungen beim Fortgang und bei der Ankunft des Kindes. Die vierteljährlichen Auszahlungen des Monatsgeldes füllten weiter hinten die Spalten von vier Seiten, wo jedesmal die unleserliche Unterschrift des Steuereinnehmers wiederkehrte.
»Wie, bei Nevers?« fragte Hubertine. »Du bist in der Nähe von Nevers aufgezogen worden?«
Da Angélique die beiden nicht am Lesen hindern konnte, war sie hochrot angelaufen und wieder in ihr verstocktes Schweigen verfallen. Doch der Zorn löste ihr die Lippen, sie sprach von ihrer Pflegemutter.
»Ach, sicher hätte Mama Nini Euch geschlagen. Sie, sie nahm mich in Schutz, obwohl sie mir trotzdem manchmal eine Ohrfeige gab ... Ach, bestimmt war ich nicht so unglücklich dort unten bei den Tieren ...« Ihre Stimme versagte, sie redete in abgehackten, unzusammenhängenden Sätzen weiter von den Wiesen, auf die sie die Rotschecke führte, von dem breiten Weg, auf dem sie spielten, von den Brotfladen, die sie buken, von einem großen Hund, der sie gebissen hatte.
Hubert unterbrach sie, indem er ganz laut las:
»Bei schwerer Krankheit oder schlechter Behandlung ist der Unterinspektor ermächtigt, die Kinder zu einer anderen Pflegemutter zu geben.«
Darunter stand, das Kind AngéliqueMarie sei am 20. Juni 1860 Thérèse, der Ehefrau des Louis Franchomme, beide Blumenhändler, wohnhaft in Paris, anvertraut worden.
»Aha, jetzt verstehe ich«, sagte Hubertine. »Du bist krank gewesen, und man hat dich nach Paris zurückgebracht.«
Aber so war es auch nicht gewesen, die Huberts erfuhren die ganze Geschichte erst, als sie sie Stück für Stück aus Angélique herausgelockt hatten. Louis Franchomme, der Mama Ninis Vetter war, hatte in sein Dorf zurückkehren und dort einen Monat leben müssen, um sich von einem Fieber zu erholen; und damals hatte seine Frau Thérèse, die eine große Zuneigung zu der Kleinen hegte, es durchgesetzt, sie mit nach Paris zu nehmen, und sie versprach ganz fest, sie dort den Blumenhändlerberuf lernen zu lassen. Drei Monate später starb ihr Mann, sie sah sich, da sie selber sehr leidend war, gezwungen, zu ihrem in Beaumont ansässigen Bruder, dem Lohgerber Rabier, zu ziehen. Dort war sie in den ersten Dezembertagen gestorben und hatte ihrer Schwägerin die Kleine anvertraut, die seitdem beschimpft und geschlagen wurde und ein wahres Martyrium erlitt.
»Die Rabiers«, murmelte Hubert, »die Rabiers, ja, ja! Lohgerber am Ufer des Ligneul in der Unterstadt ... Der Mann trinkt, die Frau hat einen schlechten Lebenswandel.«
»Sie schimpften mich ein hergelaufenes Kind«, fuhr Angélique empört fort, rasend vor leidendem Stolz. »Sie sagten, die Gosse sei gut genug für einen Bastard. Wenn die Frau mich krumm und lahm geschlagen hatte, stellte sie mir Futter auf die Erde, wie ihrer Katze; und oft noch ging ich ohne zu essen schlafen ... Ach, ich hätte mich schließlich noch umgebracht!« Sie machte eine Gebärde wütender Verzweiflung. »Am Weihnachtsmorgen, also gestern, da haben sie getrunken, haben sie sich auf mich gestürzt und gedroht, mir mit dem Daumen die Augen herauszudrücken, bloß so zum Spaß. Und dann ging das nicht so, wie sie es sich gedacht hatten, und sie haben sich schließlich so mächtig mit Fausthieben bearbeitet, daß ich sie für tot gehalten habe, als sie alle beide quer ins Zimmer gefallen waren ... Seit langem hatte ich beschlossen davonzulaufen. Aber ich wollte mein Buch. Mama Nini zeigte es mir manchmal und sagte: ›Siehst du, das ist alles, was du besitzt, denn wenn du das nicht hättest, hättest du gar nichts.‹ Und ich wußte, wo sie es seit dem Tode von Mama Thérèse versteckt hielten, im Schubfach oben in der Kommode ... Da bin ich über die beiden hinweggestiegen, habe das Buch genommen und bin losgerannt und habe es dabei unter meinem Arm an meine Haut gepreßt. Es war zu groß, ich bildete mir ein, alle Leute könnten es sehen, man würde es mir wegnehmen. Oh, ich bin gerannt und gerannt! Und als es stockfinstere Nacht war, habe ich unter diesem Tor gefroren, daß ich glaubte, ich sei nicht mehr am Leben. Doch das macht nichts, ich habe es nicht losgelassen, da ist es!« Und mit einem jähen Ruck entriß sie es den Huberts, gerade als diese es zumachten, um es ihr zurückzugeben. Dann setzte sie sich wieder und sank am Tisch zusammen, preßte dabei das Büchlein in ihre Arme und schluchzte, die Wange an den Umschlagdeckel aus rosa Leinen geschmiegt. Ein schreckliches Gefühl der Demut schlug ihren Stolz nieder, ihr ganzes Wesen schien in dem bitteren Schmerz über diese wenigen Seiten mit den abgenutzten Ecken dahinzuschmelzen, über dieses armselige Ding, das ihr Schatz war, das einzige, was sie noch mit dem Leben der Welt verband. Sie konnte eine so große Verzweiflung gar nicht aus ihrem Herzen herausweinen, ihre Tränen flossen, flossen ohne Ende; und in dieser völligen Zerknirschung bekam sie wieder das hübsche Gesicht eines Blondköpfchens mit dem ein wenig länglichen, sehr reinen Oval, ihre veilchenfarbenen Augen, die vor Zärtlichkeit wieder heller wurden, den zierlichen Schwung ihres Halses, der sie einer kleinen Jungfrau