Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten. Ingrid KalteneggerЧитать онлайн книгу.
mit dem Gedanken anfreunde, hier liegen zu bleiben, für immer, höre ich, dass die Studenten über mir doch nicht verreist sind. Ebenso wenig sind sie auf wundersame Weise plötzlich rücksichtsvoll geworden. Wieso auch? Sie sind Teil dieser Welt, und die hat sich zur Aufgabe gemacht, mir zu zeigen, wie wenig Wert sie auf mein Dasein legt.
Aber noch bleibt mir Badezusatz in Pralinenform. Noch bleiben mir die Wirkstoffe der Meeresalgen, die die Tiefe meiner Falten in fünf Wochen um dreißig Prozent reduzieren. Noch bleibt mir ein Gin Tonic am Badewannenrand, der in weit kürzerer Zeit das Gegenteil schafft. Noch bleiben mir Lucia Popp, mein Handy und sieben Prozent Akkuleistung.
Wenn ich das Handy auf ein Handtuch lege, während es am Strom hängt, kann eigentlich nichts passieren. Und nein, ich bin nicht selbstmordgefährdet, jedenfalls nicht, solange ich Lucia Popp höre und nicht EMD.
»Tod und Verzweiflung«, singt die Königin der Nacht. Eines der Törtchen verbreitet Zimt-Lavendelaroma im Badewasser. Ich höre nicht, aber ich sehe, wie es von Bässen erschüttert wird, wie die Lavendelschiffe auf dem Weg um meine Knie- und Buseninseln in Seenot geraten. An der Decke brauen sich dunkle Wolken zusammen. Ist das ein Wasserschaden? War der schon immer? Ich glaube nein. Sieht dramatisch aus. Es müsste einiges getan werden, in der Wohnung. Aber wie, bitte, ohne Leiter?
Was veranstalten die da über mir? In immer schneller werdendem Rhythmus rutschen der Gin Tonic auf der einen Seite und auf der anderen das Handy dem Abgrund entgegen. Ich rette das Handy. Die Therapeutin würde das als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnen. Ein Drink, der ins Badewasser fällt, ist lang nicht so schlimm wie ein Handy am Stromkabel. Ärgern tut’s mich trotzdem.
»Hört!«, schmettere ich mit Lucia Popp, »hört, Rachegötter!« Im Bad war schon immer die beste Akustik. Oben zeigen sie sich unbeeindruckt.
Es rumpelt und stampft unverändert weiter. Das geht zu weit. Ich war auch jung und rücksichtslos, aber so jung und rücksichtslos war ich nie. Ich wische mir also Meeresalgen im Wert von ungefähr sechzig Euro aus dem Gesicht – Wirkung gleich null –, schlüpfe in den Bademantel und stapfe ein Stockwerk höher.
Ich klingle. Es zieht im Hausflur. Meine Haare tropfen auf den Terrazzoboden. Mir egal. Ich war schon immer weniger erkältungsanfällig als andere Sängerinnen. Ich klingle, bis jemand die Tür aufmacht.
Ein Mädchen. Auf den zweiten Blick: junge Frau. Eine von denen, die nach dem Ausweis gefragt werden, wenn sie Alkohol kaufen, bis sie dreißig sind.
»Was?«, formulieren ihre Lippen. Hören kann ich sie nicht in dem Lärm, aber sie hat eine ausdrucksstarke Gestik, muss man ihr lassen. Ich schau sie finster an. Was glaubt sie wohl, was?
Sie verschwindet, die Tür lässt sie weit offen, dreht die Lautstärke etwas zurück. Der Flur ist derselbe wie meiner, eigentlich. Nur sind die Wände hier altrosa gestrichen und in fünf Metern Höhe verströmt ein Kristalllüster eine Atmosphäre wie frisch gebackener Kuchen. Es müsste umgekehrt sein. Hier die Funzel im staubigen Lampion und unten bei mir das einladende Kristall.
»Komm ruhig herein«, sagt die Mädchenfrau mit einer Stimme, wie nur Italienerinnen sie haben. Für drei Wörter verschwendet sie eine ganze Tonleiter und knarzt zwischendurch wie eine alte Tür. So weit kommt’s noch, denke ich. Und merke, dass ich schon in ihrem Flur stehe. Vor der Statue eines gelben Elefanten, der Flöte spielt.
»Das ist Ganesha. Ich bin Francesca.«
Francesca sieht mich mit grünen Augen an und schiebt die viel zu langen Ärmel ihres Pullovers hoch, die sofort wieder über ihre kleinen Hände fallen. Bezaubernd, aber nicht mich.
»Ich verstehe, dass ihr feiern wollt, Francesca«, sage ich streng, »aber das ist zu laut. Ich erwarte Freunde.« Hab ich das nötig, sie anzulügen? Wenigstens findet meine imaginäre Gästeliste noch Verwendung: »Andrea, Sybille und Claudio.«
»Ich bin alleine«, klärt Francesca mich auf. Und dann: »Jemand schreit immer im Haus.«
In diesem Haus schreit niemand, das weiß ich genau. Die junge Frau ist verrückt. Sie hört Stimmen. Schade.
»Ja. Sehr laut und hoch«, sagt Francesa.
Ich ahne, was sie meinen könnte. Oder wen.
Und drehe mich zum Gehen.
Aber dann überlege ich es mir anders.
»Das ist nicht Schreien«, sage ich und singe ihr ein dreigestrichenes D entgegen. Nicht schlecht, so aus dem Stand. Die Akustik ist im Stiegenhaus noch besser als im Bad.
»Schreien klingt anders«, und dann schreie ich in ihr verdutztes Gesicht: »Aaaaahhh!«
Das hätte ich längst tun sollen. Mehr schreien. Mit dem Besenstiel an die Decke pumpern, wenn oben die Bässe stampfen, und »Ruuuheee!« schreien. Den Eltern in der Musikschule über den Gang entgegenschreien: »Nein! Edgar kriegt kein Solo!« Und Nico durchs Telefon anschreien: »Bring die Leiter zurück, du Lulu!«, anstatt hauszuhalten mit meiner Wut, sie zu schonen wie meine Stimme, damit sie mir nicht etwa verloren geht.
Einen göttlichen Moment nach dem anderen lasse ich ins Badewasser plumpsen. Das Glas, das auf den Boden gesunken ist, fische ich heraus und mixe mir einen neuen Drink. Die Gurkenscheibe schwimmt vorbei. Ich lege sie mir aufs rechte Auge. Das Haus vibriert immer noch leicht von der Musik der kleinen Italienerin, aber ich höre jetzt auf dem Handy die Callas Platinum Collection und singe lauthals mit. Jetzt könnte man, geb ich zu, es durchaus als Schreien bezeichnen. Aufgrund der Kopfhörer leidet die Intonation, dazukommt der Zorn. Ich schreie den Schmerz der Weltgeschichte aus mir heraus, die Norma, die Mimi, die Butterfly und ja, die Carmen. So werde ich diese Heilige Nacht verbringen, schreiend in der Wanne, in regelmäßigen Abständen heißes Wasser zulaufen lassen, ab und zu das Gurkenauge wechseln und morgen früh heiser sein oder untergegangen.
Es klingelt.
Diese jungen Dinger haben wirklich Nerven. Oben rattern die Beats, aber soweit ich das durch die Kopfhörer beurteilen kann, hört das Klingeln nicht auf.
Ein zweites Mal werfe ich mich in den Bademantel – der ist komplett durchnässt – und öffne die Tür.
Francescas Augen funkeln mich an. »Ich habe leiser gemacht, Sie müssen auch leiser machen.«
Sein wäre richtiger, denke ich, gehe aber großzügig darüber hinweg, weil ich ihr ansehe, wie viel Überwindung sie das gekostet hat. Sie hat gewartet, bis es nicht mehr ging.
»Es ist Weihnachten!« Sie hat Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen.
Eine ungewohnte Milde überschwemmt mich. Ich möchte ihr etwas schenken. Das ist der Geist der Weihnacht. Oder der Gin. Ich rausche ins Wohnzimmer, greife mir das erstbeste Paket und schwenke im Zurückkommen den Panettone am Bändchen.
»Buon Natale«, wünsche ich und werte es als Kompliment für meine Aussprache, dass sie automatisch »Grazie altretanto« antwortet.
Sind das Tränen in ihren Augen? Hervorgerufen vom Anblick einer Kuchenschachtel? Was macht dieses Mädchen bloß zu Weihnachten ganz allein in einer fremden Stadt? Denn auf den dritten Blick ist sie eben doch ein Mädchen. Zwanzig, höchstens. Hat ihre katholische Familie sie verstoßen, weil sie zum Hinduismus übergetreten ist? Jetzt wäre ein guter Moment, sie hereinzubitten und das herauszufinden.
Ich lasse den Moment verstreichen, sehe zu, wie Francesca, ohne die Augen vom Panettone zu lösen, in den ersten Stock hinaufsteigt. Wenn sie der Anblick des Aranzini-Ziegels schon zu Tränen rührt, nicht auszudenken, was erst die Oliven in ihr auslösen würden. Oder die eingelegten Champignons.
Ich könnte mir ein paar davon herrichten und mitnehmen in die Wanne.
Ich gehe im Wohnzimmer die verbliebenen CDs durch. Irgendetwas wird Nico ja dagelassen haben, etwas Stilles, Besinnliches. Im Haus gegenüber zündet eine Frau die Kerzen am Baum an. Ich seh ihr zu, seh sie lächeln über die Freude, die sie ihrer Familie macht, die sie dafür noch mehr lieben wird als ohnehin schon,