Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas MergelЧитать онлайн книгу.
eine politische Philosophie entworfen hat, die zu einer normativen Grundlage moderner Staatlichkeit geworden ist. Er entwickelte die Lehre von den Staatsformen, die – vereinfacht – eine Abfolge der drei „guten“ Formen mit drei „schlechten“ Formen kennt, die jeweils aufeinander folgen. „Gut“ heißt: am Gemeinnutz orientiert; „schlecht“: es geht um den Eigennutz:
(1.) Die Einzelherrschaft: Monarchie – nicht notwendig ein König, wohl aber eine dem Gemeinwohl dienende Alleinherrschaft; sie kann zur Tyrannis degenerieren, einer Alleinherrschaft, die nicht dem Gemeinwohl dient.
(2.) Die Herrschaft von wenigen ist die Aristokratie, die Herrschaft „der Besten“, der „Tugendhaftesten“; ihre Degenerationsform ist die Oligarchie, also die Herrschaft von wenigen, die aber nur am Eigennutz interessiert sind.
(3.) Die Herrschaft von vielen nennt Aristoteles „Politie“: die Herrschaft der Besonnenen, der Vernünftigen. Degeneriert sie, wird sie zur Demokratie oder auch Ochlokratie (die Herrschaft der Armen, des Pöbels).
[Das Schulwissen, dass „Demokratie“ die gute, „Ochlokratie“ die schlechte Form sein soll, ist postfaschistische Geschichtspolitik, jedenfalls insoweit sie sich auf Aristoteles beruft, der ausdrücklich die politie so bezeichnet und die Demokratie eher negativ, als Herrschaft der kleinen Leute beschreibt. Allerdings herrschte in der athenischen Alltagssprache wohl „Demokratie“ vor – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die realen Bürger der Polis weniger wohlhabende Sklavenhalter als eher Handwerker und kleine Händler waren. Die positive theoretische Besetzung des Demokratiebegriffs geht auf den griechischen Historiker Polybios zurück, der 200 Jahre nach Aristoteles lebte; seine Begriffsbildung reflektiert die gewandelten sozialen Bedingungen der griechischen Stadt, die damals nur im Ausnahmefall noch eine selbständige politische Einheit war.]
Die politische Philosophie des Aristoteles hat zwei weitere, bis weit in die Neuzeit reichende Vorstellungen von Staatsformen entwickelt: Erstens die Theorie der gesetzmäßigen Abfolge von Verfassungsformen und zweitens die Idee, dass es die Mischverfassungen sind, die beste Ergebnisse zeitigen. Noch die Diskussion der amerikanischen Verfassung in den 1780er Jahren war von dieser Vorstellung geprägt, dass es eine Mischverfassung von monarchischen (Präsident), aristokratischen (Senat) und „demokratischen“ (Repräsentantenhaus) Momenten sei, die ein politisches System stabil mache. Vor allem in Europa hat sich die Mischverfassungstheorie etwa im Zwei-Kammern-Prinzip gezeigt: Ein Ober- und ein Unterhaus wie in England repräsentiert bis heute die Vorstellung, dass die verschiedenen Klassen der Gesellschaft in eine institutionell harmonierende Form gebracht werden müssen.
Der Stadtstaat Rom, der in etwa zur selben Zeit (der Legende nach 753 v. Chr.) in Italien entstand, war zunächst eine Monarchie und wurde im 5. Jahrhundert ebenfalls eine Stadtrepublik, allerdings von aristokratischen Eliten (Patriziern) geleitet, die in steter Auseinandersetzung mit den nichtadligen Freien der Stadt (Plebeiern) standen. Es handelte sich um einen Territorialverband, ähnlich wie moderne Staaten. Auch die römische Wirtschaft und Politik basierten natürlich auf Sklaverei. Die Römische Republik, die im 3. Jahrhundert den größten Teil des italienischen Festlandes umfasste, in damaligem geographischen Verständnis global auszugreifen begann und um 200 (nach dem Zweiten Punischen Krieg) zum Weltreich wurde, entwickelte wie die Polis eine höchst differenzierte Fülle von Institutionen, (Wahl-) Ämtern und Regeln des Machterwerbs.8 Drei Institutionen bildeten in „Gewaltenteilung“ (Demandt) die höchsten Instanzen: Erstens das Volk, das in verschiedenen Formen der Versammlung Entscheidungen über Gesetzgebung, Krieg und Frieden und die Wahl von Staatsbeamten traf, das aber in der Volksversammlung, der contio (die keine Entscheidungen traf), auch ein Resonanzraum für den politischen Diskurs war.9 Zweitens der Senat, der aus gewählten erfahrenen Mitgliedern der Oberschicht bestand, sich zu allen wichtigen Fragen, namentlich der Außenpolitik, äußerte, Finanzaufsicht wahrnahm und dem die höchste Autorität zugesprochen wurde. Der Magistrat als dritte maßgebliche Institution war mehr als eine Exekutive, sondern umfasste Einzelämter mit hoher politischer Selbständigkeit bis hin zu kriegerischen Unternehmungen: etwa Quästoren (Finanzen), Prätoren (Rechtsaufsicht) oder Konsuln, die Leitungsfunktion, insbesondere in militärischer Hinsicht hatten. Zur Seite standen ihnen entlohnte und zunächst nur auf Zeit, später auf Dauer bestellte ausführende Diener, die Apparitoren.
Die Magistrate wurden von Volksversammlungen gewählt, und zwar maßgeblich nach Regeln einer Ämterlaufbahn, dem cursus honorum, und das bedeutete: Es waren Mitglieder der aristokratischen Oberschicht, die gewählt wurden. Auch „Plebeier“ wie Pompeius oder Cicero stammten aus aristokratischen Familien. Insofern handelte es sich um einen anderen Typ von Mischverfassung, einen fluiden zumal, denn Plebeier und Patrizier handelten die Macht immer wieder neu aus. Volksversammlungen muss man sich dabei nicht als Zusammenkünfte des ganzen männlichen Bürgervolks von Rom vorstellen, sondern eher als Versammlungen derjenigen, die Zeit hatten und sich auf dem Forum herumtrieben.10
Auch das römische Kaisertum, das mit Augustus 27. v. Chr. angesetzt wird, bedeutete in der Entwicklung der Staatlichkeit keinen Bruch, und die Zunahme des Personenkults stellte die Rationalität der Institutionen nicht in Frage. Im Gegenteil: Die religiöse Aura hat es wohl eher erleichtert, in der höchst traditionalen, auf Ehre und Rang bedachten römischen Gesellschaft politische Reformen durchzusetzen. Die Reformen Diokletians (284–305) und Konstantins des Großen (306–337), die die Reichskrise des 3. Jahrhunderts beendeten, führten leistungsfähige Provinzialverwaltungen, eine umfassende Steuerpolitik und tragfähige Rechtsinstitute (die bis in die Moderne reichen) ein. Meist wird zwar zu dieser Zeit das Römische Reich schon auf dem absteigenden Ast gewähnt; aber seine höchste Ausprägung an Staatlichkeit erreichte Rom erst Anfang des 4. Jahrhunderts – imperiale Macht und staatliche Organisation gingen hier nicht überein.
Damit sind einige zentrale Momente römischer Staatlichkeit angesprochen oder zumindest angedeutet:
(1.) Es gab stabile, überpersönliche Institutionen zur Regierung und Gesetzgebung, die (auch wenn sie den jeweiligen Machtverhältnissen häufig nachgeben mussten) ein Gerüst darstellen konnten, das Macht verteilte.
(2.) Es gab eine kontinuierliche und reformierbare Verwaltung, die (jedenfalls im Prinzip) nicht nach Willkür, sondern nach Verfahrensgrundsätzen operierte und in vieler Hinsicht vorbildhaft für moderne Verwaltungen geworden ist. Allerdings wird man nicht von Institutionen im modernen Sinn sprechen. Vielmehr waren es einzelne Amtsträger und ihre Stäbe (also Verwandte und Klienten), die jeweils diese Aufgaben übernahmen und vom nächsten Amtsträger und seinen Leuten abgelöst wurden. Insofern wurde kontinuierlich verwaltet – aber sozusagen von je unterschiedlichen Verwaltungen.
(3.) Vielbegehrt war das römische Bürgerrecht, das Mitsprache in der Volksversammlung und Wahlrecht sicherte, eine bestimmte Rechtsbehandlung (z. B. Verschonung von Folter und Todesstrafe) garantierte und äußere Symbole wie das Tragen der Toga kannte. Mit der Expansion des Römischen Reichs wurde es auch auf außerhalb der Stadt ausgeweitet. Man kann es als eine Protoform der modernen Staatsbürgerschaft verstehen – lange Zeit nur für eine kleine Minderheit der Menschen. Doch im Jahre 212 n. Chr. dehnte Kaiser Caracalla das römische Bürgerrecht auf alle freien Bewohner des Römischen Reichs aus und beförderte damit die politische Integration, entgrenzte aber auch die politischen Zugehörigkeiten.
(4.) Das römische Recht war ein Rechtssystem, das auch private Rechtsverhältnisse zu regeln beanspruchte, das zunehmend auf geschriebene Rechtssätze anstatt auf Gewohnheitsrecht setzte und das im 6. Jahrhundert als „corpus iuris civilis“ zu einem Rechtstext (genauer: einer Sammlung von Rechtssätzen) wurde, der im 19. Jahrhundert die Staatsbildung in Europa nachhaltig beeinflusste und z. B. vorbildhaft für den Code Napoleon wurde.
(4.) Das Römische Reich war bei Weitem der größte Militärstaat der Antike, und Reinhards Diktum, dass Staatlichkeit eine Funktion der Kriegsführung ist, ist hier in jedem Fall am Platze. Die militärische Dienstpflicht, die zunächst die Kehrseite des römischen Bürgerrechts war, dauerte im Prinzip 30 Jahre (!),