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Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas MergelЧитать онлайн книгу.

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel


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Habsburg und dem Osmanischen Reich Formen interkultureller Diplomatie mit den jeweils „anderen“ entstanden – auch das ein Kennzeichen moderner Staatlichkeit.25

      Diese Epoche der Bellizität hat viele politische Philosophen zu einem grundsätzlichen Nachdenken darüber angeregt, wie sich Recht und Gewalt, Staat und Volk, Institutionen und Freiheit zueinander verhalten. Der Eindruck der allgemeinen Unsicherheit führte zu der Frage, wie man die Geltung von Regeln ermöglichen und auf Dauer stellen könnte. Wir haben es mit einer intensiven, langandauernden internationalen Diskussion zu tun, innerhalb derer nicht nur die moderne Staatstheorie entfaltet wurde, sondern auch das moderne Völkerrecht entstand.26 Diese Diskussion ist in ganz Europa und bis nach Amerika „gewandert“ und breit rezipiert worden. Die Entstehung einer überstaatlichen Staatstheorie ist gleichzeitig ein Hinweis darauf, wie sehr die Fragen der politischen Ordnung von den Zeitgenossen als allgemeine Probleme und nicht als Spezifika der einzelnen Staaten verstanden wurden.

      1625 veröffentlichte der niederländische Jurist Hugo Grotius (1583–1645), noch stärker unter dem Eindruck von Handelskonflikten zwischen England und den Niederlanden als dem Dreißigjährigen Krieg, sein Werk „Über das Recht des Krieges und des Friedens“, in dem er als erster ein überstaatliches (und überkonfessionelles!) Völkerrecht entwickelte, das auf der Basis der Toleranz die faktische Koexistenz verschiedener Staatsgebilde anerkannte. Wenige Jahrzehnte später und unter dem Einfluss von Grotius entwickelte der deutsche Philosoph Samuel Pufendorf (1632–1694) eine politische Theorie, die die Staatsbildung in Zusammenhang mit der Unterscheidung von Recht und Unrecht brachte und damit einen Beitrag zu einer naturrechtlich begründeten Staatsrechtstheorie leistete, die in den vernünftigen Interessen der Menschen und also nicht mehr im Willen Gottes die treibenden Interessen sah, sich staatlich zu vereinigen. Er war der Erste, der den Gedanken einer naturrechtlich verankerten Würde des Menschen ins Spiel brachte. Der Staat entstand bei ihm also aus dem Willen der Menschen, sich zusammenzutun.

      Solche Überlegungen muten angesichts der Gewalttätigkeit der Epoche und einer keineswegs gerechten Staatlichkeit überaus optimistisch an. Sie haben aber die Entwicklung von Vertrags- und Verfassungsrecht ebenso vorangebracht wie die Aufmerksamkeit für die Rechte der Menschen gegenüber dem Staat. Vor allem die Verfassung der USA ist stark auf solche Traditionen bezogen.

      Ein starker Strang der staatstheoretischen Diskussion dieser Zeit ist aber ungleich pessimistischer in seinem Bemühen, die inner- und interstaatliche Gewalt einzuhegen. Einer der frühesten und gleichzeitig wirkmächtigsten dieser Theoretiker war der französische Theologe Jean Bodin (1529 od. 1530–1596). Als katholischer Geistlicher und Anwalt in Paris erlebte er den Ausbruch der Hugenottenkriege 1562 (die ebenfalls weit über 30 Jahre dauern sollten) aus nächster Nähe. Seine „Sechs Bücher über den Staat“ (Les six livres de la République [sic!]) (1576) versuchten, die Souveränität des Fürsten zunächst aus religiösen, dann aber auch aus sozialtheoretischen Argumenten zu rechtfertigen. Der Staat besteht ihm zufolge aus vielen Familien mit einem souveränen Oberhaupt an der Spitze und ist sozusagen selbst eine große Familie; er ist ebenso herrschaftlich verfasst wie eine Familie. Ein Staat ohne Souveränität ist kein Staat. Zwar weiß Bodin, dass es verschiedene Staatsformen gibt, auch Mischformen, aber er plädiert aus Stabilitätsgründen für eine Monarchie, wenngleich mit demokratischen Elementen (lediglich die Nachfolge ist in der Monarchie ein Problem und kann zum Krieg führen, weshalb Bodin aus pragmatischen Gründen für eine Erbmonarchie optiert). Der Fürst [= Hausvater] ist der Stellvertreter Gottes auf Erden; er darf und muss sich zwar beraten lassen, entscheiden muss er aber allein. Nur er kann die Gesetzlosigkeit, die im Naturzustand herrscht, aufheben und in die Sicherheit der Gesetze überführen. Dafür braucht er den Gehorsam seiner Bürger, und für diesen bedarf es der Religion, der Freiheit, des Eigentums und der Gerechtigkeit. So soll der Fürst z. B. die Ämter ohne Ansehen der Person nur nach Leistung vergeben. Der Fürst hat in den gesellschaftlichen Konflikten die Funktion des unparteiischen Schiedsrichters und Versöhners (dies ist eine Spitze gegen die französische Monarchie, die sich in den Hugenottenkriegen einseitig auf die Seite der Katholiken stellte). Aber das Recht zum Widerstand haben die Untertanen nicht, selbst wenn der Herrscher, der zum Tyrannen geworden ist, gegen menschliches oder göttliches Recht verstößt. Allerdings ist Bodin bewusst, dass ein allmächtiger Herrscher zum Missbrauch der Macht neigt – das nimmt er in Kauf.

      Mit dieser religiös begründeten Theorie eines souveränen Fürsten als Inbegriff des Staates ist Bodin zum vielzitierten Vordenker des Absolutismus „von Gottes Gnaden“ geworden. Mit der Analogie zwischen Familie und Staat, dem Monarchen als Hausvater hat er eine enorm wirksame ideologische Formel geschaffen, die aus Staatsinteresse Gemeinwohl machte und den Staat als „wir alle“ erscheinen ließ. Gleichzeitig aber ebnete er einer Säkularisierung des Staates den Weg, indem er postulierte, dass der Fürst gerade auch in Religionsdingen nicht mehr Partei sein sollte. Dass der Fürst den Untertanen befehlen könne, welcher Religion sie angehören sollen, lehnte Bodin ab. Damit bereitete er ungeachtet seines theologischen Begriffsmantels die Vorstellung eines säkularisierten Staates vor, der sich in das persönliche Bekenntnis seiner Untertanen nicht mehr einmischt.

      Im Umfeld des Englischen Bürgerkriegs entstand eine auf den ersten Blick ähnliche Theorie, die noch ungleich mehr Wirksamkeit entfaltete und bis heute wohl das zentrale Referenzwerk für die Theorie des modernen Staates ist.27 Thomas Hobbes’ (1588–1679) wichtigstes Werk, „Leviathan“ (1651), ist unter dem unmittelbaren Eindruck der Gräuel des Englischen Bürgerkriegs und vor allem der Hinrichtung Karls II. entstanden. Hobbes postuliert einen Naturzustand, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht. Die Menschen sind Herren ihrer selbst und verfügen über ihre naturrechtlich gegebene Gewalt, aber sie sind auch der ständigen Gewalt durch andere ausgesetzt. Um diese zu minimieren, schließen sie sich zusammen und geben in einem Gesellschaftsvertrag die ihnen eigene Gewalt ab an einen Mächtigeren, der Sicherheit gewährleistet, aber auch (tendenziell unbegrenzte) Macht über sie hat: den Leviathan28. Dadurch entsteht der souveräne Staat. Zentral ist der Doppelcharakter dieser Souveränität: „Denn der, welcher Macht genug hat, alle zu beschützen, der hat auch Macht, alle zu unterdrücken.“29 Man kann dieses Verhältnis auch umdrehen: Wer alle unterdrücken kann, der kann auch alle beschützen. Der Leviathan kann die Bürger zwingen, das zu tun, was ihnen letztlich nützt. Und weil die Gesetze für alle gelten, müssen die Bürger keine Angst mehr vor dem Staat haben.

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      Thomas Hobbes, Leviathan, Frontispiz, 1651.

      Dieser Gesellschaftsvertrag ist indes unwiderruflich, d. h. die Rechte, die die Bürger abgegeben haben, können sie nicht zurückfordern oder einklagen, ihnen kommt auch kein Widerstandsrecht gegen den Leviathan zu. Das berühmte Titelbild des Werks zeigt diese allumfassende Macht: Der Leviathan (der aussieht, wie ein frühneuzeitlicher König auszusehen hat) setzt sich in seinem Körper zusammen aus vielen einzelnen Körpern. Er beherrscht das ganze Land, allein schon durch seine schiere Größe. Er trägt ein Schwert (rechts) und einen Bischofsstab (links) und demgemäß gebietet er über Weltliches und Kirchliches, über Krieg und Frieden. Eine höhere Gewalt als ihn (so die Inschrift ganz oben) gibt es nicht.30

      Diese Theorie ist vielfach rezipiert worden und hat enorme Auswirkungen auf die Staatstheorie gehabt – bis hin zu Carl Schmitt, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts diese Form absoluter Staatlichkeit an ein Ende kommen sah, was er lebhaft bedauerte. Für unsere Zwecke genügt es, festzustellen, dass erstens Hobbes (der selbst im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in die Emigration gehen musste und ein Anhänger König Karls II. war) die Kosten der Gewalttätigkeit als so hoch einschätzt, dass er dafür auch die Freiheitsrechte der Menschen opfert, und zwar unwiderruflich. Zweitens billigt Hobbes der religiösen Gewalt keinerlei Eigenrecht mehr zu. Der Staat entsteht auch nicht auf der Basis von Gottes Ratschluss, sondern auf Grund des freien Willens der Menschen: Er ist eine menschliche und keine göttliche Veranstaltung – das macht den Hauptunterschied


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