Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna OberlinnerЧитать онлайн книгу.
sie lediglich eine Inversion der Weisungen aus der Ars darstellten.11 So bezeichnete der klassische Philologe Wilamowitz, wie Lenz (1969) berichtet, in einem seiner Berliner Seminare die Remedia als „matte[n] Aufguß auf die Teeblätter, aus denen der Gewürztrank der ‘Ars’ bereitet worden ist“12. Auch Fränkel hat 1945 noch behauptet: „Ovid […] had been writing on love for the better part of the past twenty-five years. No wonder that the subject had worn thin for him.“13 Mit der Publikation von Kenneys (auch für meine Untersuchungen maßgeblicher) textkritischer Ausgabe im Jahr 1961, die 1994 in zweiter Auflage und 1995 nochmals verbessert erschien,14 kam es jedoch zu einem „immense boost“15 an Forschung zur Ars und (wenngleich weniger ausgeprägt) zu den Remedia, wie sich auch am Entstehen der Kommentare zeigt16 – auch wenn man, im Vergleich etwa zu den Metamorphosen, Fasti, der Exildichtung und teils auch den Amores, nur partiell von einem ‚Boom‘ sprechen kann.17 Forschungsschwerpunkte, die Ars und Remedia gleichermaßen betreffen, waren dabei insbesondere Fragen zur Datierung18 und Struktur und zur Zusammengehörigkeit der Tetralogie19 – Rosati etwa bezeichnet die Remedia als „fourth book of the Ars“20 – sowie zur Gattung des elegisch-didaktischen Hybridprodukts und der damit einhergehenden Mischung verschiedener Diskurse,21 des „almost infinitely flexible genre“22 bzw. „supergenre“23 der ovidischen Elegie und zum Einfluss früherer literarischer Werke sowie Ovids Umgang damit.24 Auch die Rolle der mythologischen Exempel bzw. Exkurse wurde häufig zum Forschungsgegenstand.25 Die drei Bücher der Ars amatoria haben über die Jahrzehnte hinweg zwar deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren.26 Dennoch hat sich auch eine eigenständigere, spezifische Remedia-Forschung entwickelt. Im Zentrum standen dabei neben dem Aufbau und der (rhetorischen) Struktur27 Fragen zur Rolle des praeceptor (sanitatis), auch seiner Selbstpräsentation als Lehrer und Arzt und seiner Herkunft aus didaktischen und elegischen Traditionen,28 und die Rückgriffe auf literarische und philosophische Topoi, die sich mit dem Thema Heilung und Medizin befassen.29 Als ‚Meilenstein‘ und Wegweiser für die weitere Forschung ist m. E. Contes (1989) brillanter Aufsatz „Love without Elegy: The Remedia amoris and the Logic of a Genre“ – italienisch schon 1986 erschienen30 – zu werten. Dieser widmet sich dem Werk aus literaturkritischer Sicht, kontrastiert die der Elegie und Didaktik inhärenten Codes und erfasst das metaliterarische, gattungssprengende Programm der Remedia, die als „remedy against a form of literature“31, und zwar die sie konstituierende Elegie, fungieren. Dadurch erfasst Conte die grundsätzliche Natur von Ovids Heilmitteln gegen die Liebe.
Viele wissenschaftliche Beiträge befassen sich mit dem Problem, ob die Remedia überhaupt funktionieren können. Denn sowohl die metrische Gestaltung als auch die negativen, eher scheiternden exempla und die durch Intertextualität stets durchbrechende elegisch-erotische Welt zeigen, welche Spannungen und Widersprüche durch das paradox wirkende Unterfangen entstehen, in elegischen Distichen eine Lösung von unglücklicher Liebe zu versprechen.32 Christopher Brunelle (2000/2001) zitiert etwa einen Ausspruch des August Graf von Platen, der dieses Problem bereits im 19. Jahrhundert erkannt hat. „Ich zweifle aber, ob so ein Gedicht, das die Liebe zwar abwehrend, aber doch so reizend behandelt, nicht eher zur Liebe lockt, als davon wegschreckt.“33
Es wurde auch erkannt, dass intertextuelle Betrachtungen für das Verständnis der Remedia notwendig sind; besonders oft wurde dabei das Verhältnis zur Ars und den Liebeselegikern sowie dem Genre Elegie in den Blick genommen.34 Auch damit geht das Problem der funktionierenden Remedia einher: So kann man als doctus lector eigentlich nicht gleichzeitig Weisungen zum Vergessen folgen und die intra- und intertextuellen Referenzen wahrnehmen.35 Des Weiteren haben die Verbindungen zu Lukrez und zur Gattung Satire bereits philologisches Interesse geweckt.36 Die Rezeption von Ovids Ars (und, meist weniger stark akzentuiert, auch der Remedia) in Ovids späteren Werken,37 bei späteren lateinischen Dichtern sowie das Nachleben allgemein sind ebenfalls vermehrt aufgegriffen worden.38
Insgesamt wurden die Remedia meist Gegenstand von Analysen in Form von, teils längeren, Aufsätzen. Abgesehen von den Kommentaren, Textausgaben und Übersetzungen, Jones’ (1997) kurzer, 120-seitiger Monographie und Brunelles Dissertation (1997) „Gender and Genre in Ovid’s Remedia Amoris“,39 die sich v. a. mit der paradoxen Gestaltung des poetischen decorum in den Remedia befasst, gibt es jedoch keine Monographien, die sich ausschließlich den Remedia widmen.
Mit dieser Arbeit möchte ich mich grundsätzlich in den Forschungsdiskurs einreihen, der in den Remedia ein humorvolles, „mock-serious [didactic]“40 sieht – ein Werk, das sich dabei durch intra- und intertextuelle Referenzen und eine grundsätzliche ‚Literarizität‘ auszeichnet. Denn durch die produktive und parodistische Auseinandersetzung mit Prätexten und Gattungskonzepten erlangt dieses Werk seinen spezifischen Charakter. Dabei geht es mir konkret darum zu zeigen, dass die Dichtungen des Lukrez, Horaz (die Satiren und Epoden) und Catulls als jeweils modellhafte Referenztexte Pate für den Tonfall und die inhaltliche und strukturelle Gesamtkomposition der Remedia stehen, die Bezugnahme also werk-konstitutive Funktion hat; erst eine Analyse der intertextuell-parodistischen Referenzen und des (meta-)literarischen Dialogs mit den zeitgenössischen literarischen Autoritäten ermöglicht ein umfassendes Verständnis der Remedia amoris. Die fokussierten Werke sind insofern privilegierte Intertexte, als sie für Ovid paradigmatisch sind. Lukrez’ Lehrgedicht ist in Buch 4 methodisch und thematisch mit den Remedia ‚verwandt‘, gleichzeitig aber auch illustres Gegenbild. In dessen parodistischer Negation erhält m. E. der erste Remedia-Teil seine Kontur. Auch Horaz’ Gattungsrevolution im Bereich Satire und Jambus ist für die Remedia wesentlich. So wird dadurch Ovids generisch-destruktives Programm, wie ich argumentiere, erst möglich. Zudem legitimieren die produktive Rezeption der bei Horaz und insbesondere Catull zu findenden Verbindung von Erotik und Jambus und die Präsentation prototypisch rückfallgefährdeter, unglücklich Verliebter Ovids Vorgehen, sich v. a. im zweiten Remedia-Teil als Autorität mit der Propagierung alternativer Verhaltensszenarien an seine Schüler zu wenden. Diese neuen Erkenntnisse und Beobachtungen auszuführen, ist Gegenstand des im Folgenden knapp skizzierten Hauptteils.
Im zweiten Kapitel stelle ich zunächst den Aufbau der Remedia amoris unter Bezug auf bereits bestehende Untersuchungen dar und akzentuiere dessen Analyse insofern neu, als ich die beiden Hälften des Hauptteils, der tractatio,41 in Fortführung der Terminologie der drei Ars amatoria-Bücher als ‚ars agendi‘ und ‚ars vitandi‘ klassifiziere. Diese Makrostruktur ist dabei Grundlage für Untersuchungen zur Mikrostruktur des Textes, die illustriert durch tabellarische Übersichten zum Aufbau im Verlauf der Arbeit durchgeführt werden.
Das dritte Kapitel dient der Erläuterung der literaturwissenschaftlichen Grundlagen und Begriffe, welche die Basis meiner Analysen sind. Dabei versuche ich, moderne literaturkritische Konzepte auf ihre Kompatibilität mit der antiken (Sicht auf) Literatur zu prüfen und so zu verwenden, dass anachronistische Verzerrungen beim Blick auf die antiken Texte vermieden werden. Das betrifft den Begriff ‚Intertextualität‘ und seine Verbindung mit den antiken Termini aemulatio und imitatio und den Begriff ‚Parodie‘, welchen ich unter Bezug auf Margaret Roses (1993) Definition von modernen reduktionistischen Varianten abgrenze und in seiner antiken Fundierung verwende. Für intertextuelle Bezüge differenziere ich in Fortführung der Klassifikationen Ulrich Broichs und Manfred Pfisters (1985) zwischen Einzeltext- und Systemreferenzen, da dies der Konzeption der Referenzen in den Remedia entspricht. Über die Zusammenfassung bestehender Erläuterungen zum Intertextualitätsbegriff hinaus habe ich jedoch ein eigenes Analysemodell, das ‚Pyramidenmodell der Intertextualität‘ entwickelt, das ich für die intertextuellen Untersuchungen, den Schwerpunkt meiner Arbeit, nutze. Der Vorteil ist, dass in dieser dreidimensionalen pyramidalen Darstellung die Hierarchie intertextueller Bezüge, die von einem fokussierten Prätext ausgehen, visualisiert werden kann. Auch lässt sich die Gleichzeitigkeit mehrerer Bezüge, die für die Remedia und auch viele andere lateinische Texte konstitutiv ist, dadurch einfach und übersichtlich abbilden.
Mit dem vierten Kapitel beginnt der eigentliche Hauptteil meiner Arbeit. In Kapitel 4.1 belege ich, wie das Lehrgedicht des Lukrez, insbesondere die Diatribe gegen die Liebesleidenschaft aus dem vierten Buch von De rerum natura, intertextuell aufgerufen