Empörung, Revolte, Emotion. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
oder minder beleidigendem Charakter: „Lügenpresse!“, „Corona-Diktatur!1“, die sowohl mündlich (evtl. durch Megafon verstärkt) als auch schriftlich (auf Transparenten) vermittelt werden.
Unserer Empörung freien Lauf zu lassen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Revolte. Der zweite Schritt besteht darin, konkrete Ansprüche zu stellen, um die Sachlage zu verändern, die für unsere Empörung verantwortlich ist: „Rettet das Klima!“, „Kinder an die Macht!“. Insofern befindet sich der direktive Aufforderungsakt ein Stück weiter auf dem Weg zum Handeln als der expressive Sprechakt Exklamation. So bieten zum Beispiel Hausfassaden für militante Anarchisten willkommene Flächen, um ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse zu äußern und gleichzeitig ihre Forderungen zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft bekannt zu geben: „Lebe wild!“, „Wählt das Leben, nicht die Urne!“, „Die Häuser denen die drin (sic) wohnen …“2.
Mit Sprache werden Gefühle und emotionale Einstellungen nicht nur ausgedrückt und benannt, sondern auch „geweckt, intensiviert sowie konstituiert“ (Schwarz-Friesel 2007: 361). Dass der Weg auch von der Sprache zur Emotion gehen kann, zeigt uns Stéphane Hessel mit seinem Pamphlet Indignez-vous! (Empört Euch!) (Hessel 2010a/b), indem er seine Leserschaft dazu aufruft, emotional wach zu werden und sich dann für eine gute Sache zu engagieren:
C’est vrai que les raisons de s’indigner peuvent paraître aujourd’hui moins nettes ou le monde trop complexe. Qui commande, qui décide? […] Mais dans ce monde, il y a des choses insupportables. Pour le voir, il faut bien regarder, bien chercher. Je dis aux jeunes: cherchez un peu, vous allez trouver. La pire des attitudes est l’indifférence, dire "je n’y peux rien, je me débrouille". En vous comportant ainsi, vous perdez l’un des composantes essentielles qui fait l’humain. Une des composantes indispensables: la faculté d’indignation et l’engagement qui en est la conséquence.3 (Hessel 2010a: 14)
Wenn sich Empörung in Engagement verwandelt, werden auch (Auf-)Forderungen laut. Inwiefern die emotionale mit der sprachlichen Ebene zusammenhängt, soll im Folgenden näher untersucht werden.
Pragmatik der Aufforderung
Als Oberbegriff für eine ganze Reihe von direktiven Sprechhandlungen (befehlen, bitten, vorschlagen, abraten …) lässt sich die Aufforderung relativ gut definieren. Schwieriger gestaltet sich die Aufgabe, wenn es darum geht, die Vielfalt ihrer sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten pragmatisch zu erklären.
In der einschlägigen Literatur werden verschiedene Faktoren genannt, die bei der Wahl der Formulierung eine entscheidende Rolle spielen (cf. Weigand 1984; Wunderlich 1984; Herrmann 2003; Graf/Schweizer 2003). So sollte genau darauf geachtet werden, welches hierarchische Verhältnis zwischen den Kommunikationsbeteiligten besteht, ob sie auf Kooperation oder Konkurrenz eingestellt sind, in wessen Interesse die intendierte Handlung ausgeführt werden soll, inwiefern die besagte Handlung einen dringenden, bindenden Charakter hat, ob die Aufforderung explizit an eine bestimmte Person adressiert ist oder sich an ein breiteres Publikum wendet usw. Werden die genannten Faktoren miteinander kombiniert, ergibt sich ein extrem komplexes Bild. Es kann zum Beispiel sein, dass Sprecherin X angesichts ihres Alters oder ihrer sozialen Stellung über eine höhere Position verfügt, die es ihr erlaubt, wenig Rücksicht auf Adressaten Y zu nehmen, und sich trotzdem für eine diplomatischere Vorgehensweise entscheidet, ohne Imperativmodus. Direkte Aufforderungen können nämlich leicht „Reaktanz“, d.h. „aversive Reaktionen“ auslösen (cf. Herrmann 2003: 725) und sind keine Garantie für eine höhere Effizienz. Differenzierte sprachliche Mittel sind umso mehr angesagt, als die Aufforderung für beide Beteiligten ein Risiko bedeutet, schließlich setzen sie ihr „Gesicht“ aufs Spiel:
Bei einer expliziten Aufforderung kann der Sprecher sein Gesicht verlieren, wenn der Adressat ihr nicht folgt; und der Adressat kann sein Gesicht verlieren, wenn er seine Handlungen nicht mehr selbst bestimmt. Daher folgen die Sprecher in der Wahl der Äußerung einer Strategie, die die Effektivität so groß wie möglich und den Gesichtsverlust so niedrig wie möglich macht. (Wunderlich 1984: 112)
Laut Fandrych und Thurmair hat sich sogar das besondere Risiko, das mit diesem im zwischenmenschlichen Austausch unumgänglichen Sprechakt prinzipiell verbunden ist, auf die Sprachentwicklung ausgewirkt:
Das große formale Spektrum für Aufforderungshandlungen ist vermutlich deshalb entstanden, weil eine Aufforderung, die ja vom Angesprochenen eine Handlung verlangt, immer potenziell gesichtsbedrohend ist. Also haben sich sehr viele unterschiedlich direkte (und unterschiedlich höfliche) Formen herausgebildet. Welche Form im konkreten Fall adäquat ist, hängt vom Kontext, den an der Kommunikation Beteiligten und insbesondere von der Textsorte ab. (Fandrych/Thurmair 2018: 276)
Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Pragmatik der Aufforderung ins Interesse der Forschung gerückt und in ihrem Facettenreichtum untersucht worden. Dennoch ist die emotionale Komponente bis jetzt kaum explizit herangezogen worden, wenn auch die immer wiederkehrende Frage des Höflichkeitsgrads der Aufforderung ein Zeichen dafür ist, dass Empfindungen hier eine besondere Rolle spielen. Dass eine sprachliche Handlung, die so tief im menschlichen Zusammenleben verankert ist, nicht nur distanziert und emotionslos realisiert werden kann, scheint in der Tat naheliegend. Dabei kann es sich um den nicht intentionalen Ausbruch eines realen Affekts handeln (emotional communication), oder aber um das intentionale, strategische Signalisieren einer wahren bzw. gespielten Empfindung (emotive communication)1.
3 Einblick in einige Aufforderungsvarianten
In den Publikationen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Thema auseinandergesetzt haben, herrscht Konsens über die grammatische Heterogenität der Aufforderungssätze. Was die aufforderungsgeeigneten Sätze betrifft, sind sie „kaum exhaustiv angebbar. Deshalb sollte auch nicht versucht werden, solche Sätze zusammenhängend darzustellen“ (Wunderlich 1984: 113). Diese Ansicht findet ihre Bestätigung in einer etwa zum gleichen Zeitpunkt erschienen Studie von Edda Weigand, in der sie über 100 Varianten zusammenträgt, um jemanden aufzufordern, den Rasen zu mähen. Angesichts der Menge von möglichen Varianten kommt Weigand zu dem Schluss, dass sich die Einheit des Sprechakts nicht grammatisch definieren lässt: „Die Vielfalt der Äußerungsmöglichkeiten macht deutlich, dass sich kein sprachlicher Nenner finden lässt, der diese Äußerungsmenge intensional definieren könnte“ (Weigand 1984: 83).
Für das Erlernen der deutschen Sprache bildet diese Vielfalt eine Herausforderung, denn die Lernenden müssen zunächst erkennen, dass es sich bei Sätzen ohne Imperativmodus überhaupt um Aufforderungen handelt, dann sollten sich Fortgeschrittene unter ihnen mit diesem Formenreichtum besser vertraut machen. So kommen wir nicht umhin – Wunderlichs Warnung zum Trotz – uns der Schwierigkeit zu stellen und zumindest einen Teil der aufforderungskompatiblen Sätze hier zusammenzutragen.
Tabellarische Übersicht der Hauptvarianten | |
Imperativsatz1 | Fang an! Fangen wir an! Fangt an! Fangen Sie an! |
Verbzweitsatz im Indikativ Präsens | Du gehst jetzt ins Bett! |
Verbzweitsatz im Indikativ Präsens mit Modalverb | Du sollst nicht töten. |
Verbzweitsatz im Indikativ Futur2 | Du wirst erst mal schön ruhig sein! |
Verbzweitsatz mit Konjunktiv 1 | Man nehme zwei Eier, etwas Sahne […]. |
Subjektloser Passivsatz | Jetzt wird geschlafen! |
Interrogativsatz (+/- Modalverb; +/- Konj. 2) | Kannst du mir bitte das Salz reichen? |
Infinitivsatz | Einsteigen bitte! Nicht hinauslehnen! |
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