Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra HäußerЧитать онлайн книгу.
aus dem Haus ging und er die drei sich selbst und ihren älteren Geschwistern überlassen konnte, weil es bei ihm ja darum ging, Geld zu verdienen, damit die Familie etwas zu essen hatte.
Zum Zeitpunkt von Paulas Geburt lag die Sorge um die Kleidung der Kinder schon ganz und gar in Händen der Sofie-Tante und die Lene-Tante hielt zum Vorteil ihrer ungebärdigen Nichten und Neffen engen Kontakt mit dem Schulrektor Knöpfle, einem Freund der Oper und der Operette, dem sie dann und wann eine Freikarte zustecken konnte, wenn sie dem Heldentenor seine Lieblings-Kuba-Zigarren besorgt und fast zum Einkaufspreis durchgeschoben hatte. Der hochverehrte Sänger wollte sich absolut nichts schenken lassen, aber für einen fairen Handel quid pro quo erwärmte er sich durchaus, nachdem er sich der Diskretion der werten Frau Walker hatte versichern können. Darauf war Lene stolz: Dass er sie wie all ihre Stammkunden stur Frau Walker nannte und das lächerliche altjüngferliche „Fräulein“ vermied. Ein Punkt, in dem die beiden unverheirateten Walker Schwestern einander uneins waren. Die Sofie-Tante wollte Fräulein genannt werden, sie betrachtete das als Ehrenbezeigung, denn konnte sie so nicht öffentlich darlegen, dass sie als niemandes Dekoration oder „bessere Hälfte“ – wer hatte sich dieses schreckliche Etikett wohl einfallen lassen? –, sondern ganz aus sich selbst heraus existierte und für ihre Existenz hart arbeitete, so hart wie ein Mann, so eigenständig und eigenverantwortlich.
Die drei Buben konnte man auch zusammen in ein Zimmer stecken und ihnen irgendetwas hinstellen, eine Kiste mit Knöpfen oder die Schublade mit den Taschentüchern des Vaters, sie wussten sich damit zu beschäftigen, sich darum zu zanken, sie zu verstecken und wieder aufzufinden. Manchmal tobten sie durch alle Räume, kletterten aufs Pianoforte und nahmen die Klaviatur als Treppenstufe, rissen Pauls Noten aus dem Regal, so dass Johanna stundelang davor kauern musste, um die Papiere mühsam wieder zu sortieren. Sie musste es nicht!
„Lass doch Hanne, das kann der Vater doch am besten wieder selbst richten“, schimpfte Helene. Aber Johanna wollte es müssen, sie wollte mit dieser Tätigkeit für den Vater etwas tun, was sonst keiner tun wollte, und wollte damit genau fühlen, wer sie war: Papas großes Mädchen. Dass er sie versonnen ansah, wenn er sich bei ihr bedankte, dass in seinem verträumten Blick eine winzige Erinnerung funkelte an seine Wilhelmine, so wie sie damals auf ihn zukam bei ihrem ersten Treffen, als er in den Bann ihrer lieben hellblauen Augen geriet ... Ach ja, längst vorbei ... das spürte Johanna mit ihrem Herzen und fühlte sich dem Vater nah und vertraut, in Liebe verbunden jenseits aller Worte.
Wilhelmine brachte die Winter, wenn das Familienleben sich auf dem für so viele Menschen doch recht engen Raum der Wohnung, allenfalls erweitert durch das Treppenhaus und verbotenerweise sowohl Keller als auch Dachboden, abspielte, hinter sich und erwartete ungeduldig den Frühling und den Sommer, wo sie ihre drei Musketiere wieder hinunter in den Hof schicken konnte. Selbst wenn sie auf Abenteuer aus waren und den Hof verließen, so taten sie es nie für lange, denn der Hunger und ihre Sehnsucht nach den anderen Geschwistern trieben sie wieder zurück, bevor ringsum die Abendglocken läuteten und es zu dämmern begann.
Der Musikus Paul Sömmer fand sein Glück bei der Arbeit, weil er sich dort nach dem häuslichen Trubel sehnen konnte während der zehnten Wiederholung einer schwierigen Passage, mit der der Dirigent nicht zufrieden war, und er fand sein Glück zu Hause im Gedanken an den Abend, an dem er sich dem häuslichen Trubel würde entziehen können. Er war der Herr in seiner Familie. Die Kinder wurden geboren, sie wuchsen heran, jedes seiner Kinder fand einen Platz im Leben, mittendrin. Solange sie klein waren, dichtete man ihnen eine strahlende Zukunft an. Je älter sie wurden, desto zufriedener war man, wenn sie einfach nur so waren wie jeder rechts und links.
Als der Erste Weltkrieg begann, waren zwei seiner Söhne tot, Kinderkrankheiten hatten sie dahingerafft, ein Schicksal, das die Sömmers mit vielen Familien ringsumher teilten. Sein ältester Sohn war 19 Jahre alt, die jüngste Tochter zwei. Es wurde von niemandem in der Familie befürchtet, dass Paul hätte in den Krieg ziehen müssen.
„Bleib, wo du bist!“, schrieb Paul seinem Sohn Adalbert, genannt Bertel, nach Windhoek in Deutsch-Südwest-Afrika, wohin es ihn zu diesem Zeitpunkt verschlagen hatte. Die Familienväter teilten durchaus nicht alle die Begeisterung der jungen Männer für die Möglichkeit, das Vaterland zu verteidigen.
Die Cousins
1954
Als am 4. Juli 1954 Deutschland und Ungarn im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegeneinander antraten, hatte Bertel seine Schwester Sofie gebeten, mit ihm zusammen auch seine beiden Neffen Hansi und Theo einzuladen. Zu dem 20-jährigen Hansi und dem 15-jährigen Theo gesellte sich kurz vor dem ersten deutschen Gegentor noch Bertels ältester Neffe Richard. Mehr als 20 Männer drängten sich in Sofies schönem Wohnzimmer vor dem neu erworbenen Grundig 450 T-Fernsehgerät zusammen. Sofie und ihr Mann Karl wohnten in einer großzügig geschnittenen Neubauwohnung in der Otto-Beck-Straße. Es ging ihnen gut, sehr gut sogar. Sie hatten es geschafft, sich nach und nach mit allen Symbolen des wirtschaftlichen Aufschwungs in der noch jungen Bundesrepublik zu umgeben und ließen ihre Freunde und Familienangehörigen großzügig daran teilhaben.
Da waren sie nun alle beisammen, die neuen Männer der Familie Sömmer, Wilhelmines Enkelsöhne.
„Stimmt es, dass der Onkel Bertel mit dem Sepp Herberger befreundet ist?“ Theo wendet sich aufgeregt an seinen Cousin Hansi. Es ist eine Weile her, dass sie einander getroffen haben. Hansi kommt Theo heute wirklich wie ein Mann vor.
„Wer hat dir denn das gesagt?“
„Der Richard.“
Aha, daher weht der Wind, denkt Hansi. Er hat es inzwischen so satt, sich die Geschichten anzuhören, die der Richard immer und überall erzählt. Was hat der denn erreicht im Leben? Nichts. Aber immer eine große Klappe! Inzwischen verdient er sich anscheinend als Taxifahrer sein Brot, in Wirklichkeit wird er wohl von seiner Frau ernährt. Auf diesen einfachen Nenner wird es gebracht, wenn man die Tanten miteinander flüstern hört. Hansi verachtet Richard. Er verachtet ihn genauso, wie er ihn einstmals bewundert hat. Damals im Krieg, als Hansi mit seiner Mutter und seiner Schwester eine Zeit lang nach Mosbach evakuiert wurde, freute er sich, wenn Richard auf Urlaub kam, wenn er von seinen Flügen erzählte, nach Griechenland, nach Norwegen, wenn er ihm genau erklärte, wie er sich im Sichtflug orientieren musste, an Kirchtürmen, an Flüssen, an der neuen Autobahn entlang, über die Hornisgrinde nach Friedrichshafen hinüber zum Auftanken und von dort aus über die Alpen. Auf seinem Atlas verfolgte Hansi diese Routen. Freute sich über die Postkarten, die ihm Richard schickte. Bis man erfuhr, dass der heldenhafte Pilot inzwischen eingebuchtet worden war, weil er mutwillig eine Maschine zu Schrott geflogen hatte. Hatte renommieren wollen, das sah ihm ähnlich! Degradiert und schließlich in einen Panzer gesteckt.
Im brennenden Berlin wollte er herumgeirrt sein, während der Führer in seinem Bunker Selbstmord beging. Da war Hansi elf Jahre alt gewesen. Ein elfjähriger vaterloser kleiner Kerl, der dringend ein männliches Vorbild gebraucht hätte, um erwachsen werden zu können. Wo waren sie da, seine Onkels und auch der Richard? Wo waren die Ersatzväter? Sie kamen zurück aus dem Krieg, aber sein Vater blieb weg für immer. Sie kamen zurück und hockten in den Ecken herum bei den Geburtstagsfeiern, wenn sich die Familie traf. Hockten dort, rauchten, verständigten sich in merkwürdigen Halbsätzen und Codewörtern. Bis sich Onkel Walter schließlich ans Klavier setzte, bis sich Tante Sofie daneben stellte und zu singen begann: „O, Donna Klara, ich hab dich tanzen geseh’n ...“ So eine Familie war das!
Immerhin hat Hansi ja noch eine andere Familie, eine Mutter, eine Großmutter, eine Schwester. Das ist seine eigentliche Familie, seine tägliche Familie. Wo sie wohnen, ist auch seine Heimat, dort stehen sein Bett und der Tisch, an dem er ernährt wird. Die Mutter ernährt und kleidet ihn, lobt ihn, tadelt ihn, hält ihn auf dem rechten Weg in eine lebenswerte Zukunft. Eines muss er zugeben, hier in Mannheim geht es wesentlich lustiger zu als zu Hause in Mainz-Kastel. Hier flimmert die Luft, er kann nicht gleichzeitig überall hinschauen, wo sich etwas Merkwürdiges, Interessantes ereignet. Musik fließt um diese Tanten und Onkels wie ein lebenslustiger Wasserfall, wischt und wäscht alle Sorgen weg für die Zeit ihres Klingens und manchmal auch Dröhnens, Klopfens, es zittern die Stühle, der Tisch wackelt, sogar die Vorhänge schweben auf und nieder, hin und her. Mitten im Getöse das winzig kleine Omale mit