Antisemitismus. 100 Seiten. Micha BrumlikЧитать онлайн книгу.
entstanden, die vom Beginn der Eroberung Amerikas im 15. Jahrhundert über die koloniale Beherrschung Afrikas bis hin zur Neugliederung des vormals zum Osmanischen Reich gehörenden Nahen Osten (Irak, Arabien und Palästina) nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg und der Gründung des Staates Israel 1948 reicht. Damit ist ausdrücklich nicht gesagt, dass andere – nichtwestliche – Kulturen nicht auch ihre ganz eigenen Rassismen entwickelt haben.
Anders als viele, auch jüdische, Forscher postulieren, war und ist Judenfeindschaft jedoch keine gesellschaftliche Naturkonstante, auch nicht in jenem Europa, das aus dem christlichen Abendland hervorgegangen ist. Judenfeindschaft ist ein soziales Phänomen und daher auch nur aus sozialen Ursachen zu erklären, wobei der Begriff der »sozialen Ursache« nicht aufs Ökonomische beschränkt werden darf, sondern sozialpsychologische und ideologische Faktoren umfasst. Historisch hat sich Judenfeindschaft als Weltanschauung und Vorurteil in verschiedensten Formen geäußert. Sofern an Staatsverbrechen neben ökonomischen, territorialen und demographischen Interessen auch politische Ideologien mitbeteiligt sind, war der Antisemitismus gleichwohl die wesentliche Ursache eines weltgeschichtlich einmaligen Verbrechens: der vom nationalsozialistischen Deutschland arbeitsteilig betriebenen Ermordung von sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden.
Während des Abfassens dieser Zeilen im Sommer und Herbst 2019 treibt eine neue Debatte nicht nur die deutsche Gesellschaft, sondern auch die Studierenden an US-amerikanischen Universitäten um: Es geht um die erklärtermaßen gewaltfreie palästinensische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions), die sich offiziell für einen Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten östlich des Jordans einsetzt, aber auch das Rückkehrrecht der 1947/48 vertriebenen palästinensischen Araber fordert. Sollte diese Forderung eins zu eins erfüllt werden, würde das das Ende Israels als eines »jüdischen Staates« bedeuten. Ist das ein Fall von – wie es neuerdings heißt – »israelbezogenem Antisemitismus«? Doch zunächst gilt es, sich die Entstehung und Geschichte des Judenhasses anzuschauen.
Judenfeindlichkeit in der Antike
Gab es Judenhass in westlichen, christlichen Gesellschaften schon immer? Oder hat es ihn sogar schon früher gegeben – in den vorchristlichen Kulturen Griechenlands und Roms? In asiatischen Gesellschaften, namentlich Indien, China und Japan, entfiel diese Möglichkeit schon deshalb, weil dort so gut wie keine Juden lebten.
Antike pagane, also heidnische, Schriftsteller, z. B. der römische Historiker Tacitus (58–120), hielten die Juden für illoyal und abergläubisch, weil sie nicht nur als Monotheisten den Kaiserkult ablehnten, sondern auch sexuelle Reinheitsgebote sowie Speiseregeln befolgten, die auf die Angehörigen anderer Religionen fremdartig wirkten und vor allem ein gemeinsames Mahl mit Nichtjuden unmöglich machten. Andere antike Autoren, vor allem Apion, ein Griechisch schreibender Autor aus Ägypten, gegen den sich der römisch-jüdische Autor Flavius Josephus (37–100) wandte, hielten die Juden für Abkömmlinge einer aus Ägypten geflüchteten Gruppe leprakranker Sklaven, die zudem heimlich einen Esel anbeteten.
Gleichwohl bestreitet inzwischen eine wachsende Anzahl von Altertumsforschern, dass es bereits in der heidnischen Antike eine systematisch verbreitete Judenfeindschaft gegeben habe. Der Feldzug des hellenistisch-syrischen Herrschers Antiochos IV. im 2. Jahrhundert v. Chr., von dem in den nicht kanonischen Makkabäerbüchern der Bibel berichtet wird, scheint eine Ausnahme darzustellen – ging es doch diesem hellenistischen Herrscher bei der Entweihung des Tempels in Jerusalem wirklich um eine Maßnahme gegen die jüdische Religion.
Mit dem Ende des erfolgreichen Aufstandes der Makkabäer gegen das judenfeindlich vorgehende Herrscherhaus der Seleukiden entstand im Jahre 175 v. Chr., also in der Zeit des Hellenismus, ein unabhängiger jüdischer Staat, der Staat der Makkabäer – der jedoch nur kurze Zeit seine Unabhängigkeit behielt: Bereits im Jahre 63 v. Chr. eroberten die Römer unter Pompeius (106–48 v. Chr.) diesen östlichen Rand des Mittelmeers und errichteten dort einen imperialen Herrschaftsverbund. Die nun »Judäa« genannte Provinz wurde von einem römischen Kurator und teilweise von einem idumäischen Herrscherhaus, den Herodianern, regiert. Nach zwei blutigen Aufständen in den Jahren 66–70 sowie noch einmal im Jahre 135 war allerdings das Ende jüdischer Staatlichkeit bis zum Jahre 1948 vorerst besiegelt. Und erst nach dem Scheitern des Aufstandes im Jahre 135 nannten die Römer die Provinz »Palästina«.
Auf jeden Fall war die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 durch die Feldherren und Kaiser Vespasian (9–79) und Titus (39–81) eher die Niederschlagung eines antiimperialistischen Aufstandes in einer gefährdeten Provinz denn ein religionsfeindlicher Akt. Von all diesen Ereignissen berichtet die Geschichte des Judäischen Krieges des schon genannten jüdischen Autors Flavius Josephus. Warum die Zerstörung des Tempels kein religionsfeindlicher Akt war? Weil Jüdinnen und Juden im Rest des Römischen Reiches in ihrem religiösen Leben nicht eingeschränkt wurden: Das Judentum galt dort als religio licita, als ›erlaubte Religion‹, weshalb Juden nicht einmal gezwungen waren, dem als göttlich verehrten Kaiser zu opfern. Stattdessen hatten sie eine Abschlagszahlung zu leisten. Daher ist wohl nicht davon auszugehen, dass es bereits in der heidnischen Antike eine systematisch verbreitete Judenfeindschaft gegeben hat.
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